Table.Briefing: China

KP wird 100: Xi und Mao + Öffnung und Überwachung + Ideologin auf Abwegen

  • Exklusiv vorab: Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt
  • Dilemma der KP: Freiheit vs. Ordnung
  • EU und Nato wollen enger zusammenarbeiten
  • WHO: China ist jetzt frei von Malaria
  • Peking finanziert weniger Kohlekraft im Ausland
  • Syngenta plant Börsengang in Shanghai
  • Paketporto steigt
  • Im Portrait: Überläuferin Cai Xia
  • Stefan Baron: Die KP genießt hohes Vertrauen
Liebe Leserin, lieber Leser,

Ein Jubeltag? Heute, am 1. Juli, feiert die Kommunistische Partei Chinas ihr hundertjähriges Bestehen. Damit hat sie länger durchgehalten als jede vergleichbare Organisation; die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat nur 79 Jahre überlebt. Die KP Chinas hat damit gezeigt, dass sozialistische Systeme auch langlebig sein können und nicht nur freudlose Entbehrungen bringen, sondern im günstigen Fall auch Wohlstand und Weltoffenheit.

Doch diese 100 Jahre sind natürlich nicht die Positivgeschichte, als die eine Propagandaoffensive sie heute darstellen will. Von der Machtübernahme 1949 bis zur Reformära ab 1978 hat sie das Leben der Menschen kaum besser und oft schlechter gemacht. Andere, ebenfalls vom Krieg geschundene Länder haben in dieser Zeit ihr Wirtschaftswunder bereits abgeschlossen. Die Herrschaft der KP begann dagegen nicht nur mit verlorenen Jahren, sondern sogar mit menschlichen und wirtschaftlichen Rückschritten.

In unserem ersten Beitrag zum Jahrestag geht es daher auch um die Beziehung des “Großen Steuermanns” Xi Jinping zu seinem politischen Ahnen Mao Zedong. Wir bringen eine Vorab-Veröffentlichung aus dem neuen Buch “Xi Jingping – der mächtigste Mann der Welt” von den Journalisten Stefan Aust und Adrian Geiges. Der Text blickt zurück und hilft zugleich, das aktuell regierende Regime besser zu verstehen: “Der Kult um Mao wird in China allmählich ersetzt – durch einen Kult um Xi Jinping selbst.” Xi weiß um die Schrecken der Mao-Zeit, er hat sie selbst erlebt. Dennoch scheut er nicht davor zurück, eine vergleichbare Machtfülle auf seine Person zu vereinen.

Die Zeit seit der konsequenten Öffnung Anfang der Achtzigerjahre ist das Thema unseres zweiten Beitrags zum großen Jahrestag. Frank Sieren beleuchtet hier ein anderes Spannungsverhältnis, das die heutige chinesische Politik definiert: zwischen Öffnung und Überwachung. Das moderne China lässt seine Bürger reisen und lädt Investoren ein – ein entscheidender Unterschied zur Sowjetunion. Doch die Gegensätze, die sich daraus ergeben, sind umso irritierender. Freie Wirtschaft, aber unfreie Bürger. Sozialismus, aber grassierender Egoismus. Aber auch: hohe Innovationskraft ohne eine offene Gesellschaft.

Vor genau dieser Mischung von Einflüssen warnt die Persönlichkeit, die wir abschließend porträtieren: Cai Xia, einst Vordenkerin im innersten Kreis der KP. Eigentlich überzeugte Kommunistin, ist sie heute in die USA übergelaufen. Cai beobachtet den zunehmendem Totalitarismus und die aggressive Grundhaltung Chinas mit großer Sorge. Sie glaubt nicht mehr, dass sich ihr Heimatland auf dem richtigen Weg befindet.

All das zeigt, vor wie vielen Probleme sich die KP in Wirklichkeit konfrontiert sieht. Hinter der schönen Fassade der Feierlichkeiten ist das den Verantwortlichen völlig bewusst und sie arbeiten an Lösungen. Das haben wir in den bisher erschienenen Beiträgen zum KP-Jahrestag bereits aus vielen Blickwinkeln beleuchtet. Am Donnerstag berichten wir Ihnen abschließend, welche Pracht die Partei für ihren Jubeltag entfaltet hat. Und selbstverständlich halten wir Sie auch künftig über die politischen Trends auf dem Laufenden.

Ihr
Finn Mayer-Kuckuk
Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

Buchauszug

Von Mao verfolgt, wie Mao verehrt: Xis Verhältnis zum großen Übervater

Die Biografie des Xi Jinping, geschrieben von Stefan Aust und Adrian Geiges
Diese Vorab-Veröffentlichung stammt aus dem neuen Buch “Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt

Mao Zedong war ein Monster – und Xi Jinping weiß das. Schließlich wurden er und seine Familienangehörigen unter Mao verfolgt, eingesperrt, gefoltert, seine Halbschwester nahm sich deshalb das Leben. Gelegentlich hört man in China, nicht Mao selbst sei für die schlimmsten Verbrechen der Kulturrevolution verantwortlich, sondern seine Frau Jiang Qing und drei andere Mitglieder der sogenannten “Viererbande”. Doch diese Entschuldigung ist so absurd, dass Xi Jinping klug genug ist, sie nicht zu wiederholen. Andererseits hört man von ihm kaum den bekannten Satz des Reformers Deng Xiaoping: “Mao hatte zu 70 Prozent recht und zu 30 Prozent unrecht”, auch wenn der weiterhin in den offiziellen chinesischen Medien zitiert wird. Wobei uns hohe chinesische Funktionäre im privaten Gespräch immer wieder gesagt haben: Gemeint habe Deng es umgekehrt – Mao sei zu 70 Prozent schlecht und zu 30 Prozent gut gewesen. Aber es so zu sagen könne den Glauben des Volkes an die Partei erschüttern.

9. September 1976, Universität von Sichuan in der Stadt Chengdu: Die Vorlesungen wurden abgebrochen. Um 15 Uhr sollten sich alle Studenten versammeln. Nichts Besonderes, dachte die Englischstudentin Jung Chang, das war Alltag damals an chinesischen Universitäten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht trat die Parteisekretärin der Fakultät vor die Studenten, aus den Lautsprechern krächzte ihre stockende Stimme: “Unser großer Führer, der Vorsitzende Mao, unsere verehrungswürdige Eminenz -” In diesem Moment begriffen alle, was passiert war, und begannen zu schluchzen. Mao war tot.

Jung Chang, die Englischstudentin von damals, wurde weltweit bekannt durch ihren Bestseller Wilde Schwäne, in dem sie die Geschichte von drei Generationen in China erzählt, die ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihre eigene Geschichte, von der Kaiserzeit bis zum heutigen China. Später hat sie sich zwölf Jahre lang mit Mao Zedong beschäftigt, gemeinsam mit ihrem Mann, dem britischen Historiker Jon Halliday. Sie interviewten Hunderte Zeitzeugen innerhalb und außerhalb Chinas, die Mao getroffen hatten, darunter Familienmitglieder und Freunde Maos sowie Kollegen von ihm aus der chinesischen Führung. Sie durchstöberten Archive in zehn Ländern. Herausgekommen ist dabei die bisher umfassendste Mao-Biografie.

Das verblüffende Ergebnis: Fast alles, was über Mao erzählt wird, stimmt nicht. So glauben viele, Mao habe gegen die japanische Besatzung Chinas gekämpft. Doch den Krieg gegen Japan führte vor allem die nationalistische Guomindang – die Gegner Maos, die später nach Taiwan flohen. 1937 befahl Mao seinen Soldaten, sich aus den Kämpfen gegen die japanischen Eindringlinge herauszuhalten und abzuwarten, bis diese die Guomindang geschwächt hätten. Als sich einige japanische Besucher nach dem Krieg bei ihm für die japanische Invasion in China entschuldigten, entgegnete er: “Ich würde eher den japanischen Warlords danken.” Hätten die Japaner nicht große Teile Chinas besetzt, “wären wir heute noch in den Bergen”.

Die KP-Führer preisen Mao in Sonntagsreden, er habe die Bauern befreit. Jung Changs Buch ist voll von schier unglaublichen Geschichten über diese “Bauernbefreiung”. Sie befragte nicht nur Opfer, sondern auch Maos engste Kampfgefährten. Chinas Regierung warnte diese davor, mit der abtrünnigen Autorin zu sprechen, doch Chang stellt fest: “Sie schmachteten danach, die Wahrheit zu erzählen.” So schildert eine beteiligte KP-Funktionärin, was in Maos “Befreiungskrieg” 1947 passierte: Rotarmisten klopften in der Region Yan’an an jede Hütte, forderten die Bauern auf, Getreide abzugeben für die revolutionäre Bürgerkriegstruppe. “Ich habe nichts”, wimmerte eine junge Mutter. Darauf hängten Maos Leute sie und noch drei weitere Bauern an den Handgelenken auf. “Sie fragten sie, wo sie das Getreide versteckt hatte. Ich wusste, dass sie kein Getreide hatten. Aber sie ließen nicht locker und schlugen sie. Die Bluse wurde ihr heruntergerissen. Sie hatte kurz zuvor ein Baby bekommen, und die Milch tropfte herab. Das Baby weinte und krabbelte über den Boden, als es versuchte, die Milchtropfen aufzulecken.” An anderen Orten wurden “ganze Familien umgebracht, vom jüngsten bis zum ältesten Familienmitglied. Säuglinge, die noch Milch bekamen, wurden gepackt und in Stücke gerissen oder einfach in einen Brunnen geworfen”. Mao beobachtete mit eigenen Augen solche gewalttätigen Szenen und billigte sie.

Nach seinem Sieg regierte Mao genau so weiter. Während des von ihm inszenierten “Großen Sprungs nach vorn” 1958 bis 1961 verhungerten 45 Millionen Menschen – die größte Hungersnot in der Geschichte der Menschheit. Er ließ die Bauern Pflüge und Töpfe einschmelzen, um kleine “Stahlwerke” zu bauen. So weit ist die Geschichte bekannt. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Wie Jung Chang und Jon Halliday belegen, presste Mao den Bauern Getreide und Fleisch ab, um damit bei der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern Know-how für den Bau der Atombombe zu kaufen: “In den beiden kritischen Jahren 1958 und 1959 hätten allein die Getreideexporte, die fast genau sieben Millionen Tonnen ausmachten, genügt, um 38 Millionen Menschen täglich mit weiteren 840 Kalorien zu versorgen, dem Unterschied zwischen Leben und Tod.”

Auch die DDR kam in den Genuss der Lieferungen und konnte 1958 die Lebensmittelrationierung aufheben. Chinesische Bauern ernährten sich währenddessen von Gras und Blättern. Ganze Dörfer starben aus. “Die Toten sind nützlich”, erklärte Mao am 9.Dezember 1958 vor Spitzenfunktionären der Partei. “Sie können den Boden düngen.” Viele im Westen glaubten damals, China habe, anders als Indien, den Hunger besiegt. Mao persönlich versorgte Bewunderer wie den US-Journalisten Edgar Snow mit Märchen über gigantische Umwälzungen, die dieser in seinem Buch Roter Stern über China verbreitete. Revolutionsromantik mischte sich mit Fernost-Exotik – Unkenntnis mit politischem Kalkül. Der Fußballer Paul Breitner las beim Training der Nationalmannschaft demonstrativ die Mao-Bibel. Der Philosoph Jean-Paul Sartre lobte Maos “revolutionäre Gewalt” als “tief moralisch”. US-Außenminister Henry Kissinger nannte ihn einen “Mönch, der seine revolutionäre Reinheit bewahrt hat”.

Keiner traut sich, Mao Zedong zu beerdigen. Noch heute liegt seine Leiche in Peking unter Kristallglas aufgebahrt, stehen Menschen anderthalb Stunden Schlange, um ihm die Ehre zu erweisen. Auch Xi Jinping hat ihm dort seine Aufwartung gemacht und sich dreimal vor ihm verbeugt. Maos 6,50 Meter hohes und 5 Meter breites Porträt prangt weiter am Tor des Himmlischen Friedens. Xi erklärte das bei einem Parteitreffen so: “Wenn wir uns ganz von Mao losgesagt hätten, wie die Sowjetunion es mit Stalin tat, dann wären wir jetzt nicht mehr an der Macht.” Und damit sich auch sonst keiner von ihm lossagen kann, beschloss Chinas Nationaler Volkskongress 2018 ein Gesetz, das jedem eine Strafe androht, der die kommunistischen “Helden und Märtyrer beleidigt oder verleumdet”, also die offizielle Geschichtsschreibung anzweifelt.

Es erscheint wie ein Widerspruch, und es ist ein Widerspruch: Mao verfolgte und erniedrigte Xi Jinpings Vater und auch Xi Jinping selbst – und doch setzt dieser Maos Politik fort, stärker noch als seine Vorgänger. Der chinesische Künstler Ai Weiwei, selbst in diesen Kreisen aufgewachsen, ist nicht überrascht. Er erklärt uns: “Xi Jinping glaubt an das System. Auch mein Vater wurde von der Kommunistischen Partei schikaniert, aber er hat sie nie offen kritisiert, höchstens mal einzelne Taktiken oder Verhaltensweisen. Außerdem haben wir in China keine reinen Kommunisten, es gelten noch immer viele Prinzipien der konfuzianischen und feudalistischen Gesellschaft, die jeder Chinese respektiert. Xi fühlt die Macht der chinesischen Kultur und ihr Ziel zu überleben. Das ist für ihn viel wichtiger als einzelne Fehlschläge der Generation seines Vaters.”

Gleichzeitig fällt auf: Xi spricht nicht besonders häufig über Mao, zitiert ihn gelegentlich mit allgemeinen Weisheiten, wie einen alten Philosophen, verzichtet aber auf übertriebene Lobgesänge. Der Kult um Mao wird in China allmählich ersetzt – durch einen Kult um Xi Jinping selbst. An Straßenkreuzungen stehen Werbetafeln mit seinem überlebensgroßen Foto. Kaufhäuser verkaufen Teller mit seinem Konterfei. In Videos wird er als “Xi Dada” (wörtlich “Xi großgroß” im Sinne von: großer Vater oder Onkel Xi) besungen, seine Frau als “Peng Mama”. Ihm wird sogar in Rapsongs und Cartoons gehuldigt.

Viele Chinesen sind wirklich begeistert. Sie unterstützen Xis Kampf gegen die Korruption. Sie erleben ihn als ersten chinesischen Staatspräsidenten, der sich mit seiner Ehefrau, die zudem auch noch sehr freundlich und attraktiv ist, in der Öffentlichkeit zeigt. Und sie staunen über Fernsehaufnahmen von ihm, auf denen er in einfacher Kleidung in einem noch einfacheren Straßenimbiss eine Mahlzeit zu sich nimmt, weil sie so etwas bei einem chinesischen Parteiführer noch nie gesehen haben. Auch wenn das nur eine Show ist, denn »Persönlichkeiten wie Xi leben in einer Welt, in der sie niemals mit normalen Menschen ein Flugzeug besteigen oder mit dem Auto auf Straßen unterwegs sind, die nicht zuvor durch ein Sicherheitskommando leer gefegt wurden«.

Damit solche Bilder trotzdem wirken, hilft der Staat kräftig nach. 2017 startete die chinesische Jiangxi-Provinz, in der relativ viele Christen leben, eine Kampagne: “Religiöse Gläubige in Gläubige der Partei verwandeln”. In der Stadt Ji’an musste in einer katholischen Kirche das Bild der Jungfrau Maria durch ein Porträt von Xi Jinping ersetzt werden. Im Landkreis Yugan zwangen die Behörden 600 Dorfbewohner, statt der Jesusbilder in ihren Häusern Fotos von Xi aufzuhängen. Skurrile Auswüchse in entlegenen Gegenden? Seit Oktober 2018 müssen Studenten an chinesischen Universitäten Pflichtkurse in “Xi­-Jinping-Gedanken” belegen.

Mao hatte sein kleines rotes Buch Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, im Westen als “Mao-Bibel” bekannt. Xi Jinping hat etwas viel Besseres – eine kleine rote App fürs Handy, bei ihrem Erscheinen 2019 die meist heruntergeladene App des Landes. Nutzer “finden in der App nicht nur die neuesten Reden und Gedanken des Vorsitzenden, sie können die Parteipresse studieren, marxistische Klassiker und revolutionäre Filme herunterladen, sie können miteinander chatten und einander rote Umschläge mit Geldgeschenken schicken. Vor allem aber können sie – das ist die Killerapplikation – Punkte sammeln: Für jeden Essay aus der Feder Xis, den einer liest, gibt es einen Punkt, ebenso für jedes Video, das einer ansieht. Das Zehnfache an Punkten kann man sammeln, wenn man sich 30 Minuten ‘Xi-Zeit’ (so heißt eine Rubrik in der App) gönnt oder aber ein Xi-Quiz korrekt beantwortet. Und wenn man sich der App morgens zwischen sechs und halb neun oder abends ab acht Uhr widmet, dann zählen alle Punkte doppelt. Vorbei die Tage, da man als Parteimitglied die Abendnachrichten an sich vorbeirauschen lassen und die Volkszeitung ungelesen ins Altpapier geben konnte – das Smartphone registriert nun jede Minute, die einer der Sache widmet, und jeden Absatz, den er konzentriert liest.” “Die Gedanken sind frei” war gestern. Jetzt sind sie im digitalen Käfig.

Einige Titel, die Xi Jinping jetzt verliehen werden, sprechen für sich: Das Zentralorgan der Partei bezeichnet ihn als “Großen Steuermann” und “Führer des Volkes” – so wurde seit Mao niemand mehr genannt. Und um keinen der Partei- und Staatschefs nach Mao wurde ein solcher Personenkult betrieben. Menschen aus ganz China pilgern nach Shaanxi ins Dorf Liangjiahe, um dort die Höhle zu besichtigen, in der Xi Jinping als Jugendlicher gelebt hat. 2017 wurden die “Xi-Jinping-Gedanken” ins Parteistatut der KP Chinas aufgenommen, 2018 in die chinesische Verfassung. Damit ist jetzt auch juristisch klar: Wer Xi kritisiert, ist ein Parteifeind und ein Verfassungsfeind.

Um einen Machtmissbrauch wie unter Mao zu verhindern, durfte seit dessen Tod jedes Staatsoberhaupt nur für zwei Amtsperioden von je fünf Jahren regieren. Noch 2014 bezeichnete Xi Jinping dies als “entscheidenden Fortschritt”: “Wir haben das bestehende System der de facto lebenslangen Amtszeit von Führungskadern durch ein System der allgemeinen Amtszeitbegrenzung ersetzt und geordnete Führungswechsel in den Staatsorganen und regelhafte Wahlen neuer Führungsgremien von Partei und Staat verwirklicht.” Für ihn selbst gilt das nicht mehr: Im März 2018 hob Chinas Nationaler Volkskongress diese Begrenzung für Xi Jinping auf. Er kann also auf Lebenszeit an der Macht bleiben, wie ein absolutistischer Kaiser.

Nun mag man einwenden, dass das de jure auch für deutsche Bundeskanzler und die Bundeskanzlerin gilt und von diesen weidlich ausgenutzt wird, siehe Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel. Doch zum einen haben diese deutlich weniger Macht, während Xi Jinping mächtiger ist als US-Präsidenten, deren Amtszeiten aus guten Gründen auf zwei begrenzt sind. Zum anderen hat die deutsche Erfahrung gezeigt, dass sich Spitzenpolitiker in einer Demokratie bei aller Sturheit schließlich doch aus dem Amt drängen lassen. Aber wer soll das bei Xi Jinping wagen? Er könnte also nur von selbst gehen. Doch nach seinem harten Vorgehen gegen kritische und korrupte Offizielle wird er das kaum tun, wie Richard McGregor bemerkt, langjähriger Korrespondent der Financial Times in China: “Er weiß, würde er jemals zurücktreten, wären er oder zumindest seine Familie und seine engen Verbündeten in Gefahr, von seinem Nachfolger eingesperrt zu werden.”

Stefan Aust, Adrian Geiges
Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt
Piper Verlag 2021, € 22

Stefan Aust - Autor der Xi Jinping Biografie

Stefan Aust, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Sein Buch Der Baader-Meinhof-Komplex gilt als “Klassiker” (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Er gründete Spiegel TV und war 13 Jahre lang Chefredakteur des Spiegel. Heute ist er Herausgeber der Welt. Aust gehört weltweit zu den wenigen Journalisten, die ein chinesisches Staatsoberhaupt interviewt haben.

Adrian Geiges - Co-Autor der Xi Jinping Biografie

Adrian Geiges, geboren 1960, lebte als Fernsehkorrespondent in Moskau, Hongkong, New York und Rio de Janeiro. In Shanghai leitete er die Tochterfirma eines großen deutschen Unternehmens. Dann war er viele Jahre Peking-Korrespondent des Stern. Er hat Chinesisch studiert, ist mit einer Chinesin verheiratet, sie haben zweisprachig aufwachsende Töchter. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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Analyse

Ein täglich neues Dilemma: Zwischen Öffnung und Überwachung

In China denkt man in langen geschichtlichen Dimensionen, genau genommen in Dynastien. Die Chinesen sind zudem traditionell davon überzeugt, dass Dynastien in Wellenbewegungen entstehen und vergehen. Nach 160 Jahren Pleiten, Pech und Pannen zwischen 1820 und 1980 hat seitdem wieder eine Phase der Prosperität begonnen. Nun, da die nachholende Modernisierung weitgehend vollzogen ist, die Chinesen selbst Autos oder Smartphones in Spitzenqualität herstellen können, haben sie seit einigen Jahren begonnen wieder an die alten innovativen Zeiten anzuknüpfen. Denn China – eine Nation seit rund 200 vor Christus – hat große innovative Perioden hinter sich.    

Serie: 100 Jahre KP Chinas

Die Kommunistische Partei (KP Chinas), die vor 100 Jahren gegründet wurde, gilt als die treibende Kraft dieser gegenwärtigen Dynastie, basierend auf einer Ideologie, die man damals in der Not aus dem Westen importiert hatte und die immer wieder Probleme macht, wenn es darum geht, mit der Wirklichkeit mitzuhalten. 

Diese Wirklichkeit bricht sich jedoch täglich Bahn, weil die KP Chinas im Unterschied zur damaligen Sowjetunion ihre Bürger reisen lässt. Sie können also selbst vergleichen, welches System besser ist. Der zweite Unterschied: Die Kader der KP Chinas haben bei ihren Versuchen bestens verstanden, dass trotz anderer ideologischer Ausgangsdispositionen Marktwirtschaft ein zentrales Element ist und Wohlstand nötig ist, um das Überleben der Partei zu garantieren. Und der dritte Unterschied: Der Wettbewerb zwischen dem Westen und China – manche sprechen bereits vom neuen Kalten Krieg – findet auch innerhalb des Landes statt. Westliche Unternehmen produzieren auch in China für den chinesischen Markt. Die chinesischen Unternehmen spüren diesen Druck jeden Tag. Denn die Kunden haben freie Wahl, welches Produkt sie kaufen. Selbst die Chinesen, die nicht reisen – und das sind noch immer die meisten – bekommen diese Unterschiede mit. Das wäre damals in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten undenkbar gewesen. 

Der Pragmatismus von Deng Xiaoping

Zu verdanken hat China und die KP Chinas diese entscheidenden Unterschiede vor allem dem Reformer Deng Xiaoping, der nach dem Tod von Mao Zedong Ende der 1970er-Jahre etwas Ungeheuerliches gefordert hatte – zumindest in den Augen der traditionellen Kader: China müsse sich von den Ausländern, von den Kapitalisten, den Imperialisten – wie immer man sie damals aus chinesischer Sicht genannt hat – helfen lassen. Eine pragmatische Einsicht, aber auch eine bittere für das stolze China, das Jahrhunderte lang als “Reich der Mitte” sich selbst genügte.  

So entstand 1980 Shenzhen, Chinas erste Sonderwirtschaftszone: Seitdem sind die Ideologen der KP Chinas gezwungen, der internationalen Wirklichkeit zu folgen. Bis heute haben sie damit zu kämpfen. Die Partei mit ihren mehr als 90 Millionen Mitgliedern ist dem internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Sie ist zu einem ständigen Trial and Error (Versuch und Irrtum) zwischen politischer Kontrolle und der freien Marktwirtschaft gezwungen. Ein täglich neues Dilemma mit 1,41 Milliarden Menschen. 

Daraus ist unter Staats- und Parteichef Xi Jinping diese scheinbar widersprüchliche Mischung entstanden, die China zum 100. Gründungstag der Partei prägt. Relativ freie Marktwirtschaft mit Wohlstand, bahnbrechenden Innovationen und inzwischen effizienter Korruptionsbekämpfung auf der einen Seite. Zensur, Überwachung, Verfolgung politisch Andersdenkender und eine gegängelte Rechtsordnung auf der anderen. Begleitet wird beides von einer Re-Ideologisierung. Je offener die Wirtschaft wird, so scheint es, desto enger wird der ideologische Korridor, durch den die Zivilgesellschaft gepresst wird.  

Marx hilft nur bedingt weiter

Je mehr der Pragmatismus um sich greift, desto lauter müssen die Ideologen rufen: “Hallo wir sind auch noch wichtig.” Und je lauter sie rufen, desto hölzerner erscheinen ihre Gesten in einem konsumgeprägten, vielfältigen Alltag. Das ist wahrscheinlich in dieser Kombination kein nachhaltiger Entwicklungspfad. Und deswegen feiert die KP Chinas auch keinen unbeschwerten Geburtstag, obwohl sie auf vieles auch stolz sein kann, was sie erreicht hat, allen voran bei der Armutsbekämpfung. 

Denn das Austarieren wird nicht einfacher, weil hinter dem Trial and Error eine wichtige Frage steht, mit der sich die Partei womöglich auch noch in den kommenden Jahrzehnten herumschlagen muss:  Wie schafft man ein Wertegerüst für ein riesiges, boomendes, marktwirtschaftliches Land? Marx hilft nur bedingt weiter. Zwar erfand die Führung den “Sozialismus mit chinesischer Prägung” – ihr Versuch, eine Schnittmenge zwischen Theorie und Praxis zu finden. Doch wirklich verfestigt hat sich der Begriff in den Köpfen der Menschen nicht.

Klar ist einstweilen nur eines: Wer der Methode Trial and Error folgt, hat zumindest die Chance, dass das Gesellschaftssystem sich entsprechend modifiziert. Wer hingegen glaubt, es lange genug probiert zu haben und nun ein für alle Mal zu wissen wie es geht, hat diese Chance nicht. Er hätte sich dann ideologisch verrannt.  

Viel mehr als von politischen Ideen ist das Handeln der Partei geprägt von den Schmerzen zweier geschichtlicher Entwicklungen. China hatte im 19. Jahrhundert zunächst den Anschluss an die technischen Entwicklungen verloren, kurze Zeit später verlor sie auch die politische Kontrolle. Das viele Jahrhunderte prosperierende Kaiserreich endete, weil Chinas Elite aus einer Mischung von Überheblichkeit und Lethargie, die einen manchmal an den heutigen Westen erinnert, mal eben die industrielle Revolution in Europa verpasste. China wurde wirtschaftlich schwächer. Das Geld ging aus. Die Politik bekam die großen Flutkatastrophen nicht mehr in den Griff.

Die Menschen wurden ärmer, begehrten auf. Große Aufstände folgten. Die westlichen Kolonialmächte krallten sich die Hafenstädte. Das Kaiserreich brach Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Dann kam Mao. Er schaffte es, die Nation wieder zu einen, wollte aber nicht wahrhaben, dass China zu geschwächt war, um aus eigener Kraft zum Westen aufzuschließen. Seine brutalen Kampagnen kosteten Millionen Menschen das Leben. All dieses Chaos des schwächer werdenden Kaiserreiches, die Kolonialzeit, der Bürgerkrieg der Republikzeit, Maos Eskapaden, die blutige Niederschlagung der Freiheitsbewegung 1989 wollen die Chinesen nicht noch einmal durchmachen. Sie wollen Innovation, Vielfalt, Wettbewerb, gleichzeitig jedoch wollen sie Führungsstärke, Ordnung und Stabilität.

Die eine Seite dieser Entwicklung fasziniert uns im Westen, die andere Seite verstört uns. Und in beide Richtungen findet man Überzeichnungen. Eine fast blinde Technologiegläubigkeit und die überzogene Drangsalierung der Zivilgesellschaft, die Zensur, die Einschränkungen der Geisteswissenschaften und die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Hongkong, die sich mit unseren Wertvorstellungen nicht vereinen lassen.

Die richtige Mischung aus Freiheit und Ordnung

Der Westen ist vor allem deswegen konsterniert, weil er fest davon überzeugt ist, dass Freiheit und Innovation untrennbar zusammengehören. China scheint diese Vorstellung auszuhebeln. Doch womöglich ist das letzte Wort dazu nicht gesprochen. Wichtig ist: Wir im Westen sollten anerkennen, dass noch ein drittes Element hinzukommt: Ordnung. Innovation entsteht in der richtigen Mischung aus Freiheit und Ordnung. Zu viel Ordnung erdrückt die Freiheit und damit den Fortschritt. Bei zu viel Freiheit entsteht Chaos. Dass die KP Chinas durch übermäßige politische Kontrolle den Fortschritt auf Dauer unterdrückt, ist aufgrund der historischen Erfahrungen unwahrscheinlich. Dass sie testet, wie viel Kontrolle möglich ist, ohne die Innovation abzuklemmen ist hingegen allgegenwärtig. Ziel der kommunistischen Führung ist es nicht, liberaler zu werden. Sie will erfolgreicher werden. Und der Erfolg setzt sich zusammen aus einer Kombination aus sozialer Zufriedenheit und wirtschaftlicher Prosperität

Dafür gibt es keinen Masterplan. Denn beide Faktoren wandeln sich unablässig. Die soziale Zufriedenheit ebenso wie die wirtschaftliche Prosperität. Ein Teil der aufstrebenden Mittelschicht wird zum Beispiel umweltbewusster. Bei der sozialen Zufriedenheit geht es in manchen Regionen noch um ausreichend Essen, in anderen schon um mehr Konsumchancen, bessere Ausbildung und Gesundheitsversorgung. In Shenzhen gibt es gleichzeitig Bürgerinitiativen gegen neue Müllverbrennungsanlagen, die dann auch vom Staat mehr Rechte bekommen, während die jungen Wanderarbeiter in den Fabriken ein paar Kilometer von den Fabrikbetreibern die Einhaltung des Mindestlohns fordern. Die Prioritäten variieren und wandeln sich je nach Entwicklungsstand. China hat damit das Problem Ungleichzeitigkeit von Wertesystem im eigenen Land, das auch auf globaler Ebene immer deutlicher sichtbar wird – und deswegen auch im Dialog mit dem Westen eine immer größere Rolle spielen sollte. Die entscheidenden zwei Fragen lauten:  

Welche Menschenrechte müssen zuerst garantiert sein, wenn nicht alles gleichzeitig möglich ist?

Und: Welche Pflichten gehören zu diesen Rechten? 

Damit muss sich die Partei in den nächsten Jahrzehnten herumschlagen. Und je vielfältiger China wird, desto schwieriger werden die Antworten sein. Dabei geht es nicht nur um das Wohl der Chinesen, sondern auch um den Machterhalt der Partei. Und das sind nur bestenfalls zwei Seiten einer Medaille.

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News

EU-Parlament fordert engere Koordinierung mit Nato

Das Europaparlament wird sich in der kommenden Woche für eine engere Koordinierung von EU und Nato angesichts des Aufstiegs Chinas aussprechen. Dem “wachsenden Einfluss sowie dem zunehmenden offensiven Auftreten” müsse mit “einer koordinierten transatlantischen Strategie begegnet werden“, heißt es in einem Entwurf, den Parlamentarier am Montag bei der Plenarsitzung in Straßburg debattiert haben. Er soll im Laufe der kommenden Woche zur Abstimmung gestellt werden. Die Abgeordneten wollen darin auch ihre “ernste Besorgnis über die Politik der Organe der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh)” in Bezug auf Hongkong, Xinjiang, Taiwan und “aggressive politische Maßnahmen und Aktionen im Südchinesischen Meer” ausdrücken. Die Volksrepublik sei als “autoritäres Regime in einen Systemwettbewerb mit der transatlantischen Partnerschaft eingetreten”.

EU-Nato Abstimmung im Bereich IKT notwendig

In dem Bericht des außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments wird zudem gefordert, “Aktivitäten Chinas im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) genau zu beobachten, insbesondere hinsichtlich seiner Initiative ‘Digitale Seidenstraße’, damit keine Abhängigkeiten von Infrastruktureinrichtungen entstehen”. Die EU und die Nato müssten sich stärker abstimmen, um kritische Infrastruktur und Telekommunikationsnetze gegen “auswärtige Eingriffe zu wappnen”. Ausrüstung, die in China hergestellt werde, müsse ausgemustert werden, betonen die EU-Parlamentarier:innen dem Entwurf zufolge.

Die Kooperation der EU und des Verteidigungsbündnisses sei von grundlegender Bedeutung, um “dem Streben von Gegnern wie China und Russland nach technologischer Dominanz und der böswilligen Nutzung von Technologien entgegenzuwirken.” In dem Entwurf spricht sich das Parlament zudem für eine stärkere Einbindung der Volksrepublik in die Rüstungskontrolle aus. Die Nato hatte Mitte Juni bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel China erstmals als “systemische Herausforderung” bezeichnet (China.Table berichtete) und sich ebenfalls für eine engere Koordinierung mit der EU ausgesprochen. ari

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WHO erklärt Malaria für besiegt

Das Coronavirus hat China innerhalb weniger Monate weitgehend unter Kontrolle gebracht. Nun hat die Volksrepublik offenbar auch den Kampf gegen die Infektionskrankheit Malaria gewonnen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am Mittwoch das bevölkerungsreichste Land der Welt offiziell als malariafrei eingestuft. “Wir gratulieren den Menschen in China zur Befreiung des Landes von Malaria”, erklärte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in einer Mitteilung. Mit dem hart erarbeiteten Erfolg habe sich China der wachsenden Zahl von Ländern angeschlossen, die der Welt zeigten, dass eine Zukunft ohne Malaria realisierbar sei. 

China als erstes Malaria-freies Land im Pazifik

Das erste Land, dem dieser Erfolg gebührt, ist China also nicht. Die WHO hat nach eigenen Angaben rund 40 weiteren Staaten ein entsprechendes Zertifikat vergeben. Allerdings ist China das erste Land in der westlichen Pazifikregion, dem dieser Durchbruch seit 30 Jahren gelingt. Laut WHO hat die Volksrepublik bereits vor Jahrzehnten damit begonnen, Medizin zur Prävention der Krankheit in Risikogebieten auszugeben. Auch wurden die Brutgebiete von Moskitos systematisch reduziert und die Menschen vor allem im Süden Chinas ausgiebig darüber informiert, keine Gefäße mit stehendem Wasser aufzustellen. Außerdem seien Insektenschutzmittel sowie Schutznetze weiträumig verfügbar gemacht worden. Noch in den 1940er-Jahren habe China rund 30 Millionen Malaria-Erkrankungen pro Jahr gemeldet. In den vergangenen vier Jahren gab es keine einzige registrierte Neuinfektion mehr in dem Land. 

Nach Schätzungen der WHO erkranken jährlich knapp 230 Millionen Menschen an der durch Mücken übertragenen Krankheit. Etwa 400.000 Menschen sterben pro Jahr an ihr – mehr als 265.000 davon sind Kinder. Die WHO hatte im vergangenen April angekündigt, die tödliche Infektionskrankheit bis 2025 weltweit in 25 Ländern ausrotten zu wollen. flee

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Weniger Kredite für Kohlekraft im Ausland

Chinas größte Bank hat Pläne zur Finanzierung eines drei Milliarden US-Dollar teuren Kohlekraftwerks in Simbabwe aufgegeben. Das habe die Industrial and Commercial Bank of China einer Gruppe von Umwelt-Organisationen mitgeteilt, berichtet Bloomberg. Der Energieanalyst Lauri Myllyvirta sagte demnach, diese Entscheidung sei “signifikant” und seines Wissens nach “das erste Mal, dass eine chinesische Bank pro-aktiv aus einem Kohlekraftwerksprojekt ausgestiegen ist”. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte haben allein die staatlichen chinesischen Entwicklungsbanken über 50 Milliarden US-Dollar in Kohleprojekte im Ausland investiert.

Doch langsam scheint sich das Blatt zu wenden. Für die “Belt and Road”-Initiative (BRI) wurde eine Klimaampel zur Einhaltung von Nachhaltigkeitsaspekten vorgeschlagen (China.Table berichtete). Und seit 2017 wurden 4,5-mal mehr Kohleprojekte im Ausland mit chinesischer Unterstützung aufgegeben oder auf Eis gelegt als sie verwirklicht wurden, wie eine Analyse des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) zeigt. Nichtsdestotrotz sei noch immer eine große Anzahl von Kohlekraftwerken “in der Pipeline”, so CREA. nib

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Syngenta strebt in Shanghai an die Börse

China National Chemical (Chemchina) will seine Tochtergesellschaft Syngenta schneller in Shanghai an die Börse bringen als bisher geplant. Das Agrarchemie-Unternehmen will in diesen Tagen seinen Börsenprospekt veröffentlichen und den Handel noch vor Jahresende aufnehmen. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) hatte Syngenta-Chef Erik Fyrwald bereits Anfang des Monats die Hoffnung geäußert, die Erstnotiz noch im laufenden Jahr über die Bühne bringen zu können. Jetzt hat das Unternehmen offenbar bereits alle nötigen Unterlagen bei der Technologiebörse Star Market eingereicht.

Syngenta, ein Schweizer Unternehmen, wurde 2015 von Chemchina für die hohe Summe von 43 Milliarden Dollar übernommen. Das Unternehmen stellt gentechnisch verändertes Saatgut, Pflanzenschutzmittel und andere Produkte für die Landwirtschaft her. Für China hat es derzeit Priorität, die Nahrungsmittelproduktion zu modernisieren, um seine große Bevölkerung sicher ernähren zu können.

Bis 2017 war Syngenta bereits in Zürich, London und New York an der Börse notiert. Nach Übernahme von 98 Prozent der Anteile durch Chemchina ist das Unternehmen aus dem Handel gegangen. Mit der Rückkehr in den Handel – diesmal an einer chinesischen Technik-Börse – könnte Chemchina einen Teil des hohen Kaufpreises wieder hereinholen. Die Bewertung soll bei 65 Milliarden Yuan liegen, das sind rund 8,5 Milliarden Euro. fin

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Preis für Pakete aus China steigt

Durch neue Regeln beim grenzüberschreitenden Onlinehandel in der EU und mit Drittstaaten werden Paketsendungen in die EU womöglich teurer. Zum 1. Juli sind Warensendungen von außerhalb der EU nicht mehr Einfuhrumsatzsteuer befreit. Bisher waren diese befreit, solange der Wert der Waren 22 Euro nicht übertroffen hat. Künftig gilt für jedes in der EU ankommende Paket der jeweilige Mehrwertsteuersatz des Zielortes der EU. Auch sinkt ab dem 1. Juli für die EU die Schwelle von insgesamt 10.000 Euro, ab der Einfuhrumsatzsteuer anfallen.

Damit sollen Händler innerhalb der EU, gegenüber denen außerhalb nicht mehr benachteiligt sein. Bisher konnten vor allem die E-Commerce-Großhändler wie Amazon, Alibaba ihre Waren direkt über ihre Plattformen an Privatkunden in Europa liefern und so die Einfuhrumsatzsteuer umgehen. In der Praxis muss ab dem 1.Juli  jedes Paket aus einem Nicht-EU-Land digital angemeldet werden und geht durch den Zoll. Die Servicepauschale wird den Kunden von den Transportunternehmen in Rechnung gestellt und beträgt bei der Deutschen Post/ DHL sechs Euro.

Die Freigrenze von 45,- Euro für private Geschenke bleibt unverändert bestehen.

Um die Abgabe der Steuern zu erleichtern, können sich Händler aus Drittstaaten wie China, USA und Großbritannien über das neue EU- Mehrwertsteuersystem IOSS (Import-One-Stop-Shop) registrieren. Solange der Wert der Waren, die außerhalb der EU eingekauft werden, 150 Euro nicht überschreitet, fallen beim Zoll keine zusätzlichen Gebühren an. niw

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Presseschau

Hong Kong’s courts should reflect China’s will, says official GUARDIAN
JPMorgan Fund Adds China Internet Stocks Hit by State Crackdown BLOOMBERG (PAY)
China completes half-year vaccination goal early, will cover as many people as possible in H2 GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
China’s tech hub Shenzhen looks to restrict surveillance cameras in public spaces SCMP
China’s Didi touts tech spending ahead of Wall St debut INDEPENDENT
China’s Economy Flashes Hints of Weakness WSJ (PAY)
Science journal editor says he quit over China boycott article GUARDIAN
Apple Daily Publisher Next Digital Will Shut Down On July 1 Following Clampdown By Hong Kong Government FORBES
China Falls Behind U.S. in Global Image, Survey Data Shows WSJ (PAY)
WHO declares China malaria-free after 70 years of efforts DW
“Zensur, Schikane, Verfolgungen”: Hongkong wird immer unattraktiver für Unternehmen HANDELSBLATT
Ein Jahr Sicherheitsgesetz: Hongkongs radikaler Umbau TAZ
Chinas Industrie-Wachstum verlangsamt sich leicht im Juli HANDELSBLATT

Portrait

Cai Xia – Ideologin und Überläuferin

Es ist wahrlich kein Glückwunsch-Schreiben, das Cai Xia zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas, formuliert hat. Im Gegenteil: Die pensionierte Dozentin der Zentralen Parteihochschule in Peking hat kürzlich die Seiten gewechselt, räumlich wie ideologisch, und teilt in einem 28-seitigen Papier für das Hoover-Institut, einem konservativen US-Thinktank an der Stanford-Universität, gegen die Führung der Volksrepublik China aus.

Ausdrücklich warnt Cai Xia die Amerikaner, und damit auch deren Verbündete in Europa, vor einem “Wunschdenken”, dass das heutige China verpflichtend in die Weltgemeinschaft zu integrieren sei. Vier Jahrzehnte diplomatischer Brückenbau hätten “lediglich eine chinesische Führung verankert, die den USA von Natur aus feindlich gesinnt sei. Unter Präsident Xi Jinping findet China eine Einbindung nicht mehr sinnvoll”, schreibt Cai Xia in dem Papier mit dem Titel “Insider’s perspective”, aus dem das Wall Street Journal zuerst zitierte.

“Wunschdenken über eine Einbindung (Chinas) müssen durch nüchterne Abwehrmaßnahmen ersetzt werden, um die Vereinigten Staaten vor der Aggression der KPCh zu schützen”, schreibt die Juristin, die größeren Druck auf China empfiehlt, “da die Kommunistische Partei Chinas viel zerbrechlicher ist, als die US-Amerikaner annehmen.” Die KP Chinas würde die Macht der US-Amerikaner durchaus fürchten. Die Partei gebe nach Außen ein mächtiges Erscheinungsbild ab, sei aber von Widersprüchen und Selbstzweifeln zerrissen. “Die KPCh hat den Ehrgeiz eines hungrigen Drachens, aber in ihr steckt ein Papiertiger”, schreibt Cai Xia.

Cai Xias falsche Hoffnung in Xi Jinping als Reformer

Ihre Aussagen bekommen auch deshalb besondere Bedeutung, weil sie selbst 15 Jahre lang an der Parteischule die besten Kader des Landes ausbildete, ehe sie 2012 pensioniert wurde. Cai Xia hatte 1988 an der Einrichtung ihren Jura-Abschluss gemacht. Die Parteischule wird auch als das Gehirn der KP bezeichnet. Dass sie nun als Dissidentin in Erscheinung tritt, ist für Cai Xia das vorläufige Ende einer Entwicklung, die sie während der bisherigen Amtszeit von Xi Jinping genommen hat. Als Mitglied der 2. Roten Generation jener Söhne und Töchter der Revolutionäre des Landes galt sie ihr ganzes Berufsleben lang als engagierte und überzeugte Ideologin im Sinne der Partei.

Doch die zunehmend totalitären Züge im Land und die wachsende Aggression Chinas als Wirtschaftsmacht haben Cai den Glauben verlieren lassen, dass sich ihr Heimatland weiterhin auf dem richtigen Weg befindet. Anfang 2020 reiste sie in die USA und kehrte nicht mehr zurück. Einerseits weil Corona die Rückkehr nach China erschwerte, anderseits, weil sie damit begann, ihre Kritik an der Partei und Xi öffentlich zu formulieren. Im Juni 2020 bezeichnete sie Xi Jinping als einen Mafiaboss. Wenig später wurde Cai Xia aus der Partei ausgeschlossen.

Sie selbst hatte große Hoffnungen in Xi gesetzt. In einem Beitrag im Politikmagazin Foreign Affairs schrieb sie vor wenigen Monaten: “Als Xi Jinping 2012 an die Macht kam, war ich voller Hoffnung für China.” Sie habe genug geschichtliches Verständnis, “um zu dem Schluss zu kommen, dass es für China an der Zeit war, sein politisches System zu öffnen.” Das Land habe nach einem Jahrzehnt der Stagnation Reformen dringend benötigt. Und sie hielt Xi für den richtigen Mann. Doch sie irrte, wie sie heute sagt. grz

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Standpunkt

Pater patriae

Von Stefan Baron

Laut dem jüngsten Edelman Trust Barometer bekunden 82 Prozent der Chinesen Vertrauen in ihre Regierung: KP. Kein anderes der insgesamt 27 untersuchten Länder kommt diesem Wert auch nur nahe. Überall auf dem Globus ist der Sozialismus gescheitert, nur nicht in China. Die Erklärungen dafür laufen meist darauf hinaus, dass Peking unfair spielt. Und in der Tat: China war bei seiner Aufholjagd gegenüber dem Westen in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich.

Gleichwohl greift es viel zu kurz, seinen fulminanten Aufstieg vor allem mit dem Diebstahl geistigen Eigentums, erzwungenem Technologietransfer und der Verweigerung von gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle, sogenannter Reziprozität, zu erklären. In seiner “ideologischen Blindheit” und der Überzeugung, dass Demokratien anderen Systemen immer und überall überlegen seien, habe der Westen China “unterschätzt”, so Politikwissenschaftler und Ex-Diplomat Kishore Mahbubani.

Die Ursache dafür ist vor allem in mangelndem Verständnis der chinesischen Geschichte, Kultur und Denkweise zu suchen. Während wir im Westen die Dinge gerne binär sehen, in Entweder-Oder-Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder böse, schwarz oder weiß und in Dichotomien wie Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt, Individuum und Gemeinschaft, kennen Chinesen nur Grautöne. Für sie bilden Gegensätze eine Einheit. In ihrem Denken stellen die widerstreitenden Kräfte Yin und Yang das Bewegungsgesetz des gesamten Universums dar. Das chinesische Denken kennt weder nur eine Wahrheit noch für immer gültige Wahrheiten, sondern nur relative und situative. Chinas Regierungs- und Wirtschaftssystem lässt sich deshalb nicht einfach als kommunistisch, sozialistisch, diktatorisch oder totalitär etikettieren. Es ist hybrid wie die gesamte chinesische Kultur.

Anders als die Kommunistischen Parteien in anderen Ländern hat die KP Chinas den Sozialismus konsequent der praktischen, konkreten, situativen, nicht-linearen und ganzheitlichen Denktradition des Landes angepasst und sich als höchst flexibel, experimentierfreudig und lernfähig erwiesen. Der chinesische Regierungsstil, so die China-Forscher Sebastian Heilmann und Elizabeth Perry, verstehe Politik als einen “Prozess der ständigen Veränderung und Konfliktbewältigung, des Ausprobierens und der Ad-hoc-Anpassung”. Chinas Regierungspartei betrachtet den Marxismus nicht als unabänderliche Entwicklungsdoktrin, sondern vor allem als dialektische Untersuchungsmethode, die als Kriterium für die Wahrheit allein die Praxis vor Ort zulässt.

Schon lange lässt sich die KP auch nicht mehr als Arbeiter- und Bauernpartei bezeichnen. Der sogenannte “Klassenhintergrund” spielt inzwischen so gut wie keine Rolle mehr. Die über 95 Millionen Mitglieder kommen aus allen Schichten des Volkes. Darunter sind auch zahlreiche Intellektuelle und Unternehmer sowie eine Reihe von Milliardären. Aufgenommen werden nur die in ihrem jeweiligen Umfeld Erfolgreichsten. Ihr Durchschnittsalter liegt deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Ein Drittel der jährlich etwa zwei Millionen neuen Mitglieder hat einen akademischen Abschluss. Rund drei Viertel der in den vergangenen Jahren in die Partei aufgenommenen Studenten kamen von den Top-Universitäten des Landes. Solche Mitglieder sind keine Herde von Schafen, sie wollen Karriere machen – aber auch mitreden. Und nirgendwo können sie das mehr als in der KP.

Anders als meist angenommen wird China so immer weniger von dogmatischen Ideologen geführt, wie wir sie aus dem ehemaligen Ostblock kannten, sondern immer mehr von gut ausgebildeten, in verschiedensten Positionen erprobten Technokraten. Diese agieren pragmatisch, erfolgs- und problemlösungsorientiert nach der berühmten Devise von Deng Xiaoping: “Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse”. Ihr oberstes Ziel ist nicht der Kommunismus. Die Einkommens- und Vermögenunterschiede im Lande sind enorm, China kennt bis heute nicht einmal eine Erbschaftssteuer. “Das Einzige was uns interessiert, sind gute Bedingungen für unsere Entwicklung”, so beschrieb Deng einst den strategischen Fokus der KP.

Daran hat sich nichts geändert. Seit ihrer Gründung habe die Partei “ihr ursprüngliches Verlangen nie geändert”, so Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping: “die historische Mission der großen Erneuerung der chinesischen Nation zu erfüllen”. Zhonguo fuxing, die “Renaissance Chinas”, gewissermaßen ein “Reich der Mitte 2.0”, ein China, das die Demütigung durch fremde Mächte in der zweiten Hälfte des 19. Und ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ein für allemal hinter sich gelassen und wirtschaftlich wie politisch und kulturell weltweit wieder die Geltung erlangt hat, die es über Tausende von Jahren zuvor genossen hatte – das ist der “chinesische Traum”. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung teilt diesen Traum und traut der KP zu, ihn Realität werden zu lassen.

Viele im Westen meinen, dies könne nur das Ergebnis von Gehirnwäsche und/oder Angst davor sein, sich frei zu äußern. Eine im Juli 2020 veröffentlichte repräsentative Langzeitstudie unter der Leitung des Politikprofessors Tony Saich, dem Direktor des Ash Centers an der Kennedy School der Universität Harvard, zeichnet jedoch ein anderes Bild. Saich ließ in acht Wellen von 2003 bis 2016 die Zufriedenheit der Chinesen mit ihrer Regierung untersuchen. Dabei wurden über 31.000 Stadt- und Landbewohner nicht online oder am Telefon, sondern von Interviewern der Kennedy School persönlich von Angesicht zu Angesicht befragt. Sprich: Die Möglichkeiten des Staates, die Angaben der Befragten zu überwachen und so auch in ihrem Sinne zu beeinflussen, waren gegenüber den gängigen Befragungsmethoden zumindest stark eingeschränkt. Ergebnis der Studie: Die Chinesen bescheinigten den staatlichen Institutionen ihres Landes auf allen Ebenen, vor allem aber der Zentralregierung, zunehmende Kompetenz und Effizienz. Zwischen 2003 und 2016 stieg die Zufriedenheit mit der Regierung in Peking von über 86 auf 93 Prozent an. Die Harvard-Wissenschaftler bescheinigten der kommunistischen Führung folgerichtig “anhaltende Resilienz durch verdiente Legitimation”.  

Die große Mehrheit der Chinesen honoriert die Fortschritte, die ihnen das gegenwärtige Regierungssystem gebracht hat. Und das nicht nur wegen der Befreiung aus bitterer Armut, eines allgemeinen Zuwachses an materiellem Wohlstand, sondern auch wegen einer deutlich erhöhten Lebenserwartung, besseren Gesundheitsversorgung und Schulbildung sowie nicht zuletzt auch mehr persönlicher Freiheiten jenseits der Politik als je zuvor in der chinesischen Geschichte; etwa die Freiheit, den Wohnsitz und Arbeitsplatz wählen, den Ehepartner aussuchen, ins Ausland reisen, dort studieren zu können und anderes mehr. “Die Mehrheit der Chinesen scheint mit einer Politik, die Ordnung und Stabilität über Freiheit und politische Partizipation stellt, einverstanden zu sein”, so Wang Gungwu, der wohl bedeutendste lebende chinesische Historiker aus Singapur. “Sie glauben, dass ihr Land dies im gegenwärtigen Stadium braucht und sind darüber verärgert, immer wieder als politisch unfrei und zurückgeblieben kritisiert zu werden.” Freiheit und Menschenrechte als solche gibt es für die Chinesen ohnedies nicht, nur verschieden Freiheiten und Rechte. Und die werden nicht von allen Menschen zu jeder Zeit und in jeder Lage gleich bewertet. Während es der eine etwa mehr schätzt, die Regierung wählen und offen kritisieren zu dürfen, stuft der andere eine Leben ohne materielle Sorgen höher ein.

Chinas politisches System basiert seit jeher auf dem paternalistischen Familienmodell der konfuzianischen Lehre (China.Table berichtete). Das Wort “Staat” besteht im Chinesischen aus den Bestandteilen “Land” und “Familie”. Er ist also so etwas wie die Familie aller Familien und der Staatschef der Familienvater, Pater patriae. Solange dieser seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Volk gebührend nachkommt, gebührt ihm dessen Loyalität. Die regierende KP hat diese Pflicht in den Augen der Mehrheit der Chinesen bisher offenkundig ausreichend beherzigt und konnte deshalb bis heute an der Macht bleiben. Die Alleinherrschaft der Partei scheint auf absehbare Zeit alternativlos. Das gilt jedoch keineswegs für immer. Das relative und situative chinesische Denken spricht dagegen. Der Westen wäre allerdings gut beraten, der Entwicklung nicht vorgreifen zu wollen. Er würde diese damit nur verzögern.

Stefan Baron ist Ko-Autor des Buches “Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht”. Vor kurzem erschien sein neues Buch “Ami go home – eine Neuvermessung der Welt”, das die Rolle Europas in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg 2.0 zwischen den USA und China zum Gegenstand hat.

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Dessert

Rotes Fahnen-Meer statt Demos in Hongkong: Wo vor einem Jahr noch Bürgerproteste stattfanden, schwenkt in diesem Jahr ein Peking-Patriot die Flagge der Volksrepublik. Am 1. Juli wird in der Sonderverwaltungszone auch der Übergabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China gedacht.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Exklusiv vorab: Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt
    • Dilemma der KP: Freiheit vs. Ordnung
    • EU und Nato wollen enger zusammenarbeiten
    • WHO: China ist jetzt frei von Malaria
    • Peking finanziert weniger Kohlekraft im Ausland
    • Syngenta plant Börsengang in Shanghai
    • Paketporto steigt
    • Im Portrait: Überläuferin Cai Xia
    • Stefan Baron: Die KP genießt hohes Vertrauen
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Ein Jubeltag? Heute, am 1. Juli, feiert die Kommunistische Partei Chinas ihr hundertjähriges Bestehen. Damit hat sie länger durchgehalten als jede vergleichbare Organisation; die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat nur 79 Jahre überlebt. Die KP Chinas hat damit gezeigt, dass sozialistische Systeme auch langlebig sein können und nicht nur freudlose Entbehrungen bringen, sondern im günstigen Fall auch Wohlstand und Weltoffenheit.

    Doch diese 100 Jahre sind natürlich nicht die Positivgeschichte, als die eine Propagandaoffensive sie heute darstellen will. Von der Machtübernahme 1949 bis zur Reformära ab 1978 hat sie das Leben der Menschen kaum besser und oft schlechter gemacht. Andere, ebenfalls vom Krieg geschundene Länder haben in dieser Zeit ihr Wirtschaftswunder bereits abgeschlossen. Die Herrschaft der KP begann dagegen nicht nur mit verlorenen Jahren, sondern sogar mit menschlichen und wirtschaftlichen Rückschritten.

    In unserem ersten Beitrag zum Jahrestag geht es daher auch um die Beziehung des “Großen Steuermanns” Xi Jinping zu seinem politischen Ahnen Mao Zedong. Wir bringen eine Vorab-Veröffentlichung aus dem neuen Buch “Xi Jingping – der mächtigste Mann der Welt” von den Journalisten Stefan Aust und Adrian Geiges. Der Text blickt zurück und hilft zugleich, das aktuell regierende Regime besser zu verstehen: “Der Kult um Mao wird in China allmählich ersetzt – durch einen Kult um Xi Jinping selbst.” Xi weiß um die Schrecken der Mao-Zeit, er hat sie selbst erlebt. Dennoch scheut er nicht davor zurück, eine vergleichbare Machtfülle auf seine Person zu vereinen.

    Die Zeit seit der konsequenten Öffnung Anfang der Achtzigerjahre ist das Thema unseres zweiten Beitrags zum großen Jahrestag. Frank Sieren beleuchtet hier ein anderes Spannungsverhältnis, das die heutige chinesische Politik definiert: zwischen Öffnung und Überwachung. Das moderne China lässt seine Bürger reisen und lädt Investoren ein – ein entscheidender Unterschied zur Sowjetunion. Doch die Gegensätze, die sich daraus ergeben, sind umso irritierender. Freie Wirtschaft, aber unfreie Bürger. Sozialismus, aber grassierender Egoismus. Aber auch: hohe Innovationskraft ohne eine offene Gesellschaft.

    Vor genau dieser Mischung von Einflüssen warnt die Persönlichkeit, die wir abschließend porträtieren: Cai Xia, einst Vordenkerin im innersten Kreis der KP. Eigentlich überzeugte Kommunistin, ist sie heute in die USA übergelaufen. Cai beobachtet den zunehmendem Totalitarismus und die aggressive Grundhaltung Chinas mit großer Sorge. Sie glaubt nicht mehr, dass sich ihr Heimatland auf dem richtigen Weg befindet.

    All das zeigt, vor wie vielen Probleme sich die KP in Wirklichkeit konfrontiert sieht. Hinter der schönen Fassade der Feierlichkeiten ist das den Verantwortlichen völlig bewusst und sie arbeiten an Lösungen. Das haben wir in den bisher erschienenen Beiträgen zum KP-Jahrestag bereits aus vielen Blickwinkeln beleuchtet. Am Donnerstag berichten wir Ihnen abschließend, welche Pracht die Partei für ihren Jubeltag entfaltet hat. Und selbstverständlich halten wir Sie auch künftig über die politischen Trends auf dem Laufenden.

    Ihr
    Finn Mayer-Kuckuk
    Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

    Buchauszug

    Von Mao verfolgt, wie Mao verehrt: Xis Verhältnis zum großen Übervater

    Die Biografie des Xi Jinping, geschrieben von Stefan Aust und Adrian Geiges
    Diese Vorab-Veröffentlichung stammt aus dem neuen Buch “Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt

    Mao Zedong war ein Monster – und Xi Jinping weiß das. Schließlich wurden er und seine Familienangehörigen unter Mao verfolgt, eingesperrt, gefoltert, seine Halbschwester nahm sich deshalb das Leben. Gelegentlich hört man in China, nicht Mao selbst sei für die schlimmsten Verbrechen der Kulturrevolution verantwortlich, sondern seine Frau Jiang Qing und drei andere Mitglieder der sogenannten “Viererbande”. Doch diese Entschuldigung ist so absurd, dass Xi Jinping klug genug ist, sie nicht zu wiederholen. Andererseits hört man von ihm kaum den bekannten Satz des Reformers Deng Xiaoping: “Mao hatte zu 70 Prozent recht und zu 30 Prozent unrecht”, auch wenn der weiterhin in den offiziellen chinesischen Medien zitiert wird. Wobei uns hohe chinesische Funktionäre im privaten Gespräch immer wieder gesagt haben: Gemeint habe Deng es umgekehrt – Mao sei zu 70 Prozent schlecht und zu 30 Prozent gut gewesen. Aber es so zu sagen könne den Glauben des Volkes an die Partei erschüttern.

    9. September 1976, Universität von Sichuan in der Stadt Chengdu: Die Vorlesungen wurden abgebrochen. Um 15 Uhr sollten sich alle Studenten versammeln. Nichts Besonderes, dachte die Englischstudentin Jung Chang, das war Alltag damals an chinesischen Universitäten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht trat die Parteisekretärin der Fakultät vor die Studenten, aus den Lautsprechern krächzte ihre stockende Stimme: “Unser großer Führer, der Vorsitzende Mao, unsere verehrungswürdige Eminenz -” In diesem Moment begriffen alle, was passiert war, und begannen zu schluchzen. Mao war tot.

    Jung Chang, die Englischstudentin von damals, wurde weltweit bekannt durch ihren Bestseller Wilde Schwäne, in dem sie die Geschichte von drei Generationen in China erzählt, die ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihre eigene Geschichte, von der Kaiserzeit bis zum heutigen China. Später hat sie sich zwölf Jahre lang mit Mao Zedong beschäftigt, gemeinsam mit ihrem Mann, dem britischen Historiker Jon Halliday. Sie interviewten Hunderte Zeitzeugen innerhalb und außerhalb Chinas, die Mao getroffen hatten, darunter Familienmitglieder und Freunde Maos sowie Kollegen von ihm aus der chinesischen Führung. Sie durchstöberten Archive in zehn Ländern. Herausgekommen ist dabei die bisher umfassendste Mao-Biografie.

    Das verblüffende Ergebnis: Fast alles, was über Mao erzählt wird, stimmt nicht. So glauben viele, Mao habe gegen die japanische Besatzung Chinas gekämpft. Doch den Krieg gegen Japan führte vor allem die nationalistische Guomindang – die Gegner Maos, die später nach Taiwan flohen. 1937 befahl Mao seinen Soldaten, sich aus den Kämpfen gegen die japanischen Eindringlinge herauszuhalten und abzuwarten, bis diese die Guomindang geschwächt hätten. Als sich einige japanische Besucher nach dem Krieg bei ihm für die japanische Invasion in China entschuldigten, entgegnete er: “Ich würde eher den japanischen Warlords danken.” Hätten die Japaner nicht große Teile Chinas besetzt, “wären wir heute noch in den Bergen”.

    Die KP-Führer preisen Mao in Sonntagsreden, er habe die Bauern befreit. Jung Changs Buch ist voll von schier unglaublichen Geschichten über diese “Bauernbefreiung”. Sie befragte nicht nur Opfer, sondern auch Maos engste Kampfgefährten. Chinas Regierung warnte diese davor, mit der abtrünnigen Autorin zu sprechen, doch Chang stellt fest: “Sie schmachteten danach, die Wahrheit zu erzählen.” So schildert eine beteiligte KP-Funktionärin, was in Maos “Befreiungskrieg” 1947 passierte: Rotarmisten klopften in der Region Yan’an an jede Hütte, forderten die Bauern auf, Getreide abzugeben für die revolutionäre Bürgerkriegstruppe. “Ich habe nichts”, wimmerte eine junge Mutter. Darauf hängten Maos Leute sie und noch drei weitere Bauern an den Handgelenken auf. “Sie fragten sie, wo sie das Getreide versteckt hatte. Ich wusste, dass sie kein Getreide hatten. Aber sie ließen nicht locker und schlugen sie. Die Bluse wurde ihr heruntergerissen. Sie hatte kurz zuvor ein Baby bekommen, und die Milch tropfte herab. Das Baby weinte und krabbelte über den Boden, als es versuchte, die Milchtropfen aufzulecken.” An anderen Orten wurden “ganze Familien umgebracht, vom jüngsten bis zum ältesten Familienmitglied. Säuglinge, die noch Milch bekamen, wurden gepackt und in Stücke gerissen oder einfach in einen Brunnen geworfen”. Mao beobachtete mit eigenen Augen solche gewalttätigen Szenen und billigte sie.

    Nach seinem Sieg regierte Mao genau so weiter. Während des von ihm inszenierten “Großen Sprungs nach vorn” 1958 bis 1961 verhungerten 45 Millionen Menschen – die größte Hungersnot in der Geschichte der Menschheit. Er ließ die Bauern Pflüge und Töpfe einschmelzen, um kleine “Stahlwerke” zu bauen. So weit ist die Geschichte bekannt. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Wie Jung Chang und Jon Halliday belegen, presste Mao den Bauern Getreide und Fleisch ab, um damit bei der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern Know-how für den Bau der Atombombe zu kaufen: “In den beiden kritischen Jahren 1958 und 1959 hätten allein die Getreideexporte, die fast genau sieben Millionen Tonnen ausmachten, genügt, um 38 Millionen Menschen täglich mit weiteren 840 Kalorien zu versorgen, dem Unterschied zwischen Leben und Tod.”

    Auch die DDR kam in den Genuss der Lieferungen und konnte 1958 die Lebensmittelrationierung aufheben. Chinesische Bauern ernährten sich währenddessen von Gras und Blättern. Ganze Dörfer starben aus. “Die Toten sind nützlich”, erklärte Mao am 9.Dezember 1958 vor Spitzenfunktionären der Partei. “Sie können den Boden düngen.” Viele im Westen glaubten damals, China habe, anders als Indien, den Hunger besiegt. Mao persönlich versorgte Bewunderer wie den US-Journalisten Edgar Snow mit Märchen über gigantische Umwälzungen, die dieser in seinem Buch Roter Stern über China verbreitete. Revolutionsromantik mischte sich mit Fernost-Exotik – Unkenntnis mit politischem Kalkül. Der Fußballer Paul Breitner las beim Training der Nationalmannschaft demonstrativ die Mao-Bibel. Der Philosoph Jean-Paul Sartre lobte Maos “revolutionäre Gewalt” als “tief moralisch”. US-Außenminister Henry Kissinger nannte ihn einen “Mönch, der seine revolutionäre Reinheit bewahrt hat”.

    Keiner traut sich, Mao Zedong zu beerdigen. Noch heute liegt seine Leiche in Peking unter Kristallglas aufgebahrt, stehen Menschen anderthalb Stunden Schlange, um ihm die Ehre zu erweisen. Auch Xi Jinping hat ihm dort seine Aufwartung gemacht und sich dreimal vor ihm verbeugt. Maos 6,50 Meter hohes und 5 Meter breites Porträt prangt weiter am Tor des Himmlischen Friedens. Xi erklärte das bei einem Parteitreffen so: “Wenn wir uns ganz von Mao losgesagt hätten, wie die Sowjetunion es mit Stalin tat, dann wären wir jetzt nicht mehr an der Macht.” Und damit sich auch sonst keiner von ihm lossagen kann, beschloss Chinas Nationaler Volkskongress 2018 ein Gesetz, das jedem eine Strafe androht, der die kommunistischen “Helden und Märtyrer beleidigt oder verleumdet”, also die offizielle Geschichtsschreibung anzweifelt.

    Es erscheint wie ein Widerspruch, und es ist ein Widerspruch: Mao verfolgte und erniedrigte Xi Jinpings Vater und auch Xi Jinping selbst – und doch setzt dieser Maos Politik fort, stärker noch als seine Vorgänger. Der chinesische Künstler Ai Weiwei, selbst in diesen Kreisen aufgewachsen, ist nicht überrascht. Er erklärt uns: “Xi Jinping glaubt an das System. Auch mein Vater wurde von der Kommunistischen Partei schikaniert, aber er hat sie nie offen kritisiert, höchstens mal einzelne Taktiken oder Verhaltensweisen. Außerdem haben wir in China keine reinen Kommunisten, es gelten noch immer viele Prinzipien der konfuzianischen und feudalistischen Gesellschaft, die jeder Chinese respektiert. Xi fühlt die Macht der chinesischen Kultur und ihr Ziel zu überleben. Das ist für ihn viel wichtiger als einzelne Fehlschläge der Generation seines Vaters.”

    Gleichzeitig fällt auf: Xi spricht nicht besonders häufig über Mao, zitiert ihn gelegentlich mit allgemeinen Weisheiten, wie einen alten Philosophen, verzichtet aber auf übertriebene Lobgesänge. Der Kult um Mao wird in China allmählich ersetzt – durch einen Kult um Xi Jinping selbst. An Straßenkreuzungen stehen Werbetafeln mit seinem überlebensgroßen Foto. Kaufhäuser verkaufen Teller mit seinem Konterfei. In Videos wird er als “Xi Dada” (wörtlich “Xi großgroß” im Sinne von: großer Vater oder Onkel Xi) besungen, seine Frau als “Peng Mama”. Ihm wird sogar in Rapsongs und Cartoons gehuldigt.

    Viele Chinesen sind wirklich begeistert. Sie unterstützen Xis Kampf gegen die Korruption. Sie erleben ihn als ersten chinesischen Staatspräsidenten, der sich mit seiner Ehefrau, die zudem auch noch sehr freundlich und attraktiv ist, in der Öffentlichkeit zeigt. Und sie staunen über Fernsehaufnahmen von ihm, auf denen er in einfacher Kleidung in einem noch einfacheren Straßenimbiss eine Mahlzeit zu sich nimmt, weil sie so etwas bei einem chinesischen Parteiführer noch nie gesehen haben. Auch wenn das nur eine Show ist, denn »Persönlichkeiten wie Xi leben in einer Welt, in der sie niemals mit normalen Menschen ein Flugzeug besteigen oder mit dem Auto auf Straßen unterwegs sind, die nicht zuvor durch ein Sicherheitskommando leer gefegt wurden«.

    Damit solche Bilder trotzdem wirken, hilft der Staat kräftig nach. 2017 startete die chinesische Jiangxi-Provinz, in der relativ viele Christen leben, eine Kampagne: “Religiöse Gläubige in Gläubige der Partei verwandeln”. In der Stadt Ji’an musste in einer katholischen Kirche das Bild der Jungfrau Maria durch ein Porträt von Xi Jinping ersetzt werden. Im Landkreis Yugan zwangen die Behörden 600 Dorfbewohner, statt der Jesusbilder in ihren Häusern Fotos von Xi aufzuhängen. Skurrile Auswüchse in entlegenen Gegenden? Seit Oktober 2018 müssen Studenten an chinesischen Universitäten Pflichtkurse in “Xi­-Jinping-Gedanken” belegen.

    Mao hatte sein kleines rotes Buch Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, im Westen als “Mao-Bibel” bekannt. Xi Jinping hat etwas viel Besseres – eine kleine rote App fürs Handy, bei ihrem Erscheinen 2019 die meist heruntergeladene App des Landes. Nutzer “finden in der App nicht nur die neuesten Reden und Gedanken des Vorsitzenden, sie können die Parteipresse studieren, marxistische Klassiker und revolutionäre Filme herunterladen, sie können miteinander chatten und einander rote Umschläge mit Geldgeschenken schicken. Vor allem aber können sie – das ist die Killerapplikation – Punkte sammeln: Für jeden Essay aus der Feder Xis, den einer liest, gibt es einen Punkt, ebenso für jedes Video, das einer ansieht. Das Zehnfache an Punkten kann man sammeln, wenn man sich 30 Minuten ‘Xi-Zeit’ (so heißt eine Rubrik in der App) gönnt oder aber ein Xi-Quiz korrekt beantwortet. Und wenn man sich der App morgens zwischen sechs und halb neun oder abends ab acht Uhr widmet, dann zählen alle Punkte doppelt. Vorbei die Tage, da man als Parteimitglied die Abendnachrichten an sich vorbeirauschen lassen und die Volkszeitung ungelesen ins Altpapier geben konnte – das Smartphone registriert nun jede Minute, die einer der Sache widmet, und jeden Absatz, den er konzentriert liest.” “Die Gedanken sind frei” war gestern. Jetzt sind sie im digitalen Käfig.

    Einige Titel, die Xi Jinping jetzt verliehen werden, sprechen für sich: Das Zentralorgan der Partei bezeichnet ihn als “Großen Steuermann” und “Führer des Volkes” – so wurde seit Mao niemand mehr genannt. Und um keinen der Partei- und Staatschefs nach Mao wurde ein solcher Personenkult betrieben. Menschen aus ganz China pilgern nach Shaanxi ins Dorf Liangjiahe, um dort die Höhle zu besichtigen, in der Xi Jinping als Jugendlicher gelebt hat. 2017 wurden die “Xi-Jinping-Gedanken” ins Parteistatut der KP Chinas aufgenommen, 2018 in die chinesische Verfassung. Damit ist jetzt auch juristisch klar: Wer Xi kritisiert, ist ein Parteifeind und ein Verfassungsfeind.

    Um einen Machtmissbrauch wie unter Mao zu verhindern, durfte seit dessen Tod jedes Staatsoberhaupt nur für zwei Amtsperioden von je fünf Jahren regieren. Noch 2014 bezeichnete Xi Jinping dies als “entscheidenden Fortschritt”: “Wir haben das bestehende System der de facto lebenslangen Amtszeit von Führungskadern durch ein System der allgemeinen Amtszeitbegrenzung ersetzt und geordnete Führungswechsel in den Staatsorganen und regelhafte Wahlen neuer Führungsgremien von Partei und Staat verwirklicht.” Für ihn selbst gilt das nicht mehr: Im März 2018 hob Chinas Nationaler Volkskongress diese Begrenzung für Xi Jinping auf. Er kann also auf Lebenszeit an der Macht bleiben, wie ein absolutistischer Kaiser.

    Nun mag man einwenden, dass das de jure auch für deutsche Bundeskanzler und die Bundeskanzlerin gilt und von diesen weidlich ausgenutzt wird, siehe Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel. Doch zum einen haben diese deutlich weniger Macht, während Xi Jinping mächtiger ist als US-Präsidenten, deren Amtszeiten aus guten Gründen auf zwei begrenzt sind. Zum anderen hat die deutsche Erfahrung gezeigt, dass sich Spitzenpolitiker in einer Demokratie bei aller Sturheit schließlich doch aus dem Amt drängen lassen. Aber wer soll das bei Xi Jinping wagen? Er könnte also nur von selbst gehen. Doch nach seinem harten Vorgehen gegen kritische und korrupte Offizielle wird er das kaum tun, wie Richard McGregor bemerkt, langjähriger Korrespondent der Financial Times in China: “Er weiß, würde er jemals zurücktreten, wären er oder zumindest seine Familie und seine engen Verbündeten in Gefahr, von seinem Nachfolger eingesperrt zu werden.”

    Stefan Aust, Adrian Geiges
    Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt
    Piper Verlag 2021, € 22

    Stefan Aust - Autor der Xi Jinping Biografie

    Stefan Aust, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Sein Buch Der Baader-Meinhof-Komplex gilt als “Klassiker” (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Er gründete Spiegel TV und war 13 Jahre lang Chefredakteur des Spiegel. Heute ist er Herausgeber der Welt. Aust gehört weltweit zu den wenigen Journalisten, die ein chinesisches Staatsoberhaupt interviewt haben.

    Adrian Geiges - Co-Autor der Xi Jinping Biografie

    Adrian Geiges, geboren 1960, lebte als Fernsehkorrespondent in Moskau, Hongkong, New York und Rio de Janeiro. In Shanghai leitete er die Tochterfirma eines großen deutschen Unternehmens. Dann war er viele Jahre Peking-Korrespondent des Stern. Er hat Chinesisch studiert, ist mit einer Chinesin verheiratet, sie haben zweisprachig aufwachsende Töchter. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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    Analyse

    Ein täglich neues Dilemma: Zwischen Öffnung und Überwachung

    In China denkt man in langen geschichtlichen Dimensionen, genau genommen in Dynastien. Die Chinesen sind zudem traditionell davon überzeugt, dass Dynastien in Wellenbewegungen entstehen und vergehen. Nach 160 Jahren Pleiten, Pech und Pannen zwischen 1820 und 1980 hat seitdem wieder eine Phase der Prosperität begonnen. Nun, da die nachholende Modernisierung weitgehend vollzogen ist, die Chinesen selbst Autos oder Smartphones in Spitzenqualität herstellen können, haben sie seit einigen Jahren begonnen wieder an die alten innovativen Zeiten anzuknüpfen. Denn China – eine Nation seit rund 200 vor Christus – hat große innovative Perioden hinter sich.    

    Serie: 100 Jahre KP Chinas

    Die Kommunistische Partei (KP Chinas), die vor 100 Jahren gegründet wurde, gilt als die treibende Kraft dieser gegenwärtigen Dynastie, basierend auf einer Ideologie, die man damals in der Not aus dem Westen importiert hatte und die immer wieder Probleme macht, wenn es darum geht, mit der Wirklichkeit mitzuhalten. 

    Diese Wirklichkeit bricht sich jedoch täglich Bahn, weil die KP Chinas im Unterschied zur damaligen Sowjetunion ihre Bürger reisen lässt. Sie können also selbst vergleichen, welches System besser ist. Der zweite Unterschied: Die Kader der KP Chinas haben bei ihren Versuchen bestens verstanden, dass trotz anderer ideologischer Ausgangsdispositionen Marktwirtschaft ein zentrales Element ist und Wohlstand nötig ist, um das Überleben der Partei zu garantieren. Und der dritte Unterschied: Der Wettbewerb zwischen dem Westen und China – manche sprechen bereits vom neuen Kalten Krieg – findet auch innerhalb des Landes statt. Westliche Unternehmen produzieren auch in China für den chinesischen Markt. Die chinesischen Unternehmen spüren diesen Druck jeden Tag. Denn die Kunden haben freie Wahl, welches Produkt sie kaufen. Selbst die Chinesen, die nicht reisen – und das sind noch immer die meisten – bekommen diese Unterschiede mit. Das wäre damals in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten undenkbar gewesen. 

    Der Pragmatismus von Deng Xiaoping

    Zu verdanken hat China und die KP Chinas diese entscheidenden Unterschiede vor allem dem Reformer Deng Xiaoping, der nach dem Tod von Mao Zedong Ende der 1970er-Jahre etwas Ungeheuerliches gefordert hatte – zumindest in den Augen der traditionellen Kader: China müsse sich von den Ausländern, von den Kapitalisten, den Imperialisten – wie immer man sie damals aus chinesischer Sicht genannt hat – helfen lassen. Eine pragmatische Einsicht, aber auch eine bittere für das stolze China, das Jahrhunderte lang als “Reich der Mitte” sich selbst genügte.  

    So entstand 1980 Shenzhen, Chinas erste Sonderwirtschaftszone: Seitdem sind die Ideologen der KP Chinas gezwungen, der internationalen Wirklichkeit zu folgen. Bis heute haben sie damit zu kämpfen. Die Partei mit ihren mehr als 90 Millionen Mitgliedern ist dem internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Sie ist zu einem ständigen Trial and Error (Versuch und Irrtum) zwischen politischer Kontrolle und der freien Marktwirtschaft gezwungen. Ein täglich neues Dilemma mit 1,41 Milliarden Menschen. 

    Daraus ist unter Staats- und Parteichef Xi Jinping diese scheinbar widersprüchliche Mischung entstanden, die China zum 100. Gründungstag der Partei prägt. Relativ freie Marktwirtschaft mit Wohlstand, bahnbrechenden Innovationen und inzwischen effizienter Korruptionsbekämpfung auf der einen Seite. Zensur, Überwachung, Verfolgung politisch Andersdenkender und eine gegängelte Rechtsordnung auf der anderen. Begleitet wird beides von einer Re-Ideologisierung. Je offener die Wirtschaft wird, so scheint es, desto enger wird der ideologische Korridor, durch den die Zivilgesellschaft gepresst wird.  

    Marx hilft nur bedingt weiter

    Je mehr der Pragmatismus um sich greift, desto lauter müssen die Ideologen rufen: “Hallo wir sind auch noch wichtig.” Und je lauter sie rufen, desto hölzerner erscheinen ihre Gesten in einem konsumgeprägten, vielfältigen Alltag. Das ist wahrscheinlich in dieser Kombination kein nachhaltiger Entwicklungspfad. Und deswegen feiert die KP Chinas auch keinen unbeschwerten Geburtstag, obwohl sie auf vieles auch stolz sein kann, was sie erreicht hat, allen voran bei der Armutsbekämpfung. 

    Denn das Austarieren wird nicht einfacher, weil hinter dem Trial and Error eine wichtige Frage steht, mit der sich die Partei womöglich auch noch in den kommenden Jahrzehnten herumschlagen muss:  Wie schafft man ein Wertegerüst für ein riesiges, boomendes, marktwirtschaftliches Land? Marx hilft nur bedingt weiter. Zwar erfand die Führung den “Sozialismus mit chinesischer Prägung” – ihr Versuch, eine Schnittmenge zwischen Theorie und Praxis zu finden. Doch wirklich verfestigt hat sich der Begriff in den Köpfen der Menschen nicht.

    Klar ist einstweilen nur eines: Wer der Methode Trial and Error folgt, hat zumindest die Chance, dass das Gesellschaftssystem sich entsprechend modifiziert. Wer hingegen glaubt, es lange genug probiert zu haben und nun ein für alle Mal zu wissen wie es geht, hat diese Chance nicht. Er hätte sich dann ideologisch verrannt.  

    Viel mehr als von politischen Ideen ist das Handeln der Partei geprägt von den Schmerzen zweier geschichtlicher Entwicklungen. China hatte im 19. Jahrhundert zunächst den Anschluss an die technischen Entwicklungen verloren, kurze Zeit später verlor sie auch die politische Kontrolle. Das viele Jahrhunderte prosperierende Kaiserreich endete, weil Chinas Elite aus einer Mischung von Überheblichkeit und Lethargie, die einen manchmal an den heutigen Westen erinnert, mal eben die industrielle Revolution in Europa verpasste. China wurde wirtschaftlich schwächer. Das Geld ging aus. Die Politik bekam die großen Flutkatastrophen nicht mehr in den Griff.

    Die Menschen wurden ärmer, begehrten auf. Große Aufstände folgten. Die westlichen Kolonialmächte krallten sich die Hafenstädte. Das Kaiserreich brach Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Dann kam Mao. Er schaffte es, die Nation wieder zu einen, wollte aber nicht wahrhaben, dass China zu geschwächt war, um aus eigener Kraft zum Westen aufzuschließen. Seine brutalen Kampagnen kosteten Millionen Menschen das Leben. All dieses Chaos des schwächer werdenden Kaiserreiches, die Kolonialzeit, der Bürgerkrieg der Republikzeit, Maos Eskapaden, die blutige Niederschlagung der Freiheitsbewegung 1989 wollen die Chinesen nicht noch einmal durchmachen. Sie wollen Innovation, Vielfalt, Wettbewerb, gleichzeitig jedoch wollen sie Führungsstärke, Ordnung und Stabilität.

    Die eine Seite dieser Entwicklung fasziniert uns im Westen, die andere Seite verstört uns. Und in beide Richtungen findet man Überzeichnungen. Eine fast blinde Technologiegläubigkeit und die überzogene Drangsalierung der Zivilgesellschaft, die Zensur, die Einschränkungen der Geisteswissenschaften und die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Hongkong, die sich mit unseren Wertvorstellungen nicht vereinen lassen.

    Die richtige Mischung aus Freiheit und Ordnung

    Der Westen ist vor allem deswegen konsterniert, weil er fest davon überzeugt ist, dass Freiheit und Innovation untrennbar zusammengehören. China scheint diese Vorstellung auszuhebeln. Doch womöglich ist das letzte Wort dazu nicht gesprochen. Wichtig ist: Wir im Westen sollten anerkennen, dass noch ein drittes Element hinzukommt: Ordnung. Innovation entsteht in der richtigen Mischung aus Freiheit und Ordnung. Zu viel Ordnung erdrückt die Freiheit und damit den Fortschritt. Bei zu viel Freiheit entsteht Chaos. Dass die KP Chinas durch übermäßige politische Kontrolle den Fortschritt auf Dauer unterdrückt, ist aufgrund der historischen Erfahrungen unwahrscheinlich. Dass sie testet, wie viel Kontrolle möglich ist, ohne die Innovation abzuklemmen ist hingegen allgegenwärtig. Ziel der kommunistischen Führung ist es nicht, liberaler zu werden. Sie will erfolgreicher werden. Und der Erfolg setzt sich zusammen aus einer Kombination aus sozialer Zufriedenheit und wirtschaftlicher Prosperität

    Dafür gibt es keinen Masterplan. Denn beide Faktoren wandeln sich unablässig. Die soziale Zufriedenheit ebenso wie die wirtschaftliche Prosperität. Ein Teil der aufstrebenden Mittelschicht wird zum Beispiel umweltbewusster. Bei der sozialen Zufriedenheit geht es in manchen Regionen noch um ausreichend Essen, in anderen schon um mehr Konsumchancen, bessere Ausbildung und Gesundheitsversorgung. In Shenzhen gibt es gleichzeitig Bürgerinitiativen gegen neue Müllverbrennungsanlagen, die dann auch vom Staat mehr Rechte bekommen, während die jungen Wanderarbeiter in den Fabriken ein paar Kilometer von den Fabrikbetreibern die Einhaltung des Mindestlohns fordern. Die Prioritäten variieren und wandeln sich je nach Entwicklungsstand. China hat damit das Problem Ungleichzeitigkeit von Wertesystem im eigenen Land, das auch auf globaler Ebene immer deutlicher sichtbar wird – und deswegen auch im Dialog mit dem Westen eine immer größere Rolle spielen sollte. Die entscheidenden zwei Fragen lauten:  

    Welche Menschenrechte müssen zuerst garantiert sein, wenn nicht alles gleichzeitig möglich ist?

    Und: Welche Pflichten gehören zu diesen Rechten? 

    Damit muss sich die Partei in den nächsten Jahrzehnten herumschlagen. Und je vielfältiger China wird, desto schwieriger werden die Antworten sein. Dabei geht es nicht nur um das Wohl der Chinesen, sondern auch um den Machterhalt der Partei. Und das sind nur bestenfalls zwei Seiten einer Medaille.

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    EU-Parlament fordert engere Koordinierung mit Nato

    Das Europaparlament wird sich in der kommenden Woche für eine engere Koordinierung von EU und Nato angesichts des Aufstiegs Chinas aussprechen. Dem “wachsenden Einfluss sowie dem zunehmenden offensiven Auftreten” müsse mit “einer koordinierten transatlantischen Strategie begegnet werden“, heißt es in einem Entwurf, den Parlamentarier am Montag bei der Plenarsitzung in Straßburg debattiert haben. Er soll im Laufe der kommenden Woche zur Abstimmung gestellt werden. Die Abgeordneten wollen darin auch ihre “ernste Besorgnis über die Politik der Organe der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh)” in Bezug auf Hongkong, Xinjiang, Taiwan und “aggressive politische Maßnahmen und Aktionen im Südchinesischen Meer” ausdrücken. Die Volksrepublik sei als “autoritäres Regime in einen Systemwettbewerb mit der transatlantischen Partnerschaft eingetreten”.

    EU-Nato Abstimmung im Bereich IKT notwendig

    In dem Bericht des außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments wird zudem gefordert, “Aktivitäten Chinas im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) genau zu beobachten, insbesondere hinsichtlich seiner Initiative ‘Digitale Seidenstraße’, damit keine Abhängigkeiten von Infrastruktureinrichtungen entstehen”. Die EU und die Nato müssten sich stärker abstimmen, um kritische Infrastruktur und Telekommunikationsnetze gegen “auswärtige Eingriffe zu wappnen”. Ausrüstung, die in China hergestellt werde, müsse ausgemustert werden, betonen die EU-Parlamentarier:innen dem Entwurf zufolge.

    Die Kooperation der EU und des Verteidigungsbündnisses sei von grundlegender Bedeutung, um “dem Streben von Gegnern wie China und Russland nach technologischer Dominanz und der böswilligen Nutzung von Technologien entgegenzuwirken.” In dem Entwurf spricht sich das Parlament zudem für eine stärkere Einbindung der Volksrepublik in die Rüstungskontrolle aus. Die Nato hatte Mitte Juni bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel China erstmals als “systemische Herausforderung” bezeichnet (China.Table berichtete) und sich ebenfalls für eine engere Koordinierung mit der EU ausgesprochen. ari

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    WHO erklärt Malaria für besiegt

    Das Coronavirus hat China innerhalb weniger Monate weitgehend unter Kontrolle gebracht. Nun hat die Volksrepublik offenbar auch den Kampf gegen die Infektionskrankheit Malaria gewonnen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am Mittwoch das bevölkerungsreichste Land der Welt offiziell als malariafrei eingestuft. “Wir gratulieren den Menschen in China zur Befreiung des Landes von Malaria”, erklärte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in einer Mitteilung. Mit dem hart erarbeiteten Erfolg habe sich China der wachsenden Zahl von Ländern angeschlossen, die der Welt zeigten, dass eine Zukunft ohne Malaria realisierbar sei. 

    China als erstes Malaria-freies Land im Pazifik

    Das erste Land, dem dieser Erfolg gebührt, ist China also nicht. Die WHO hat nach eigenen Angaben rund 40 weiteren Staaten ein entsprechendes Zertifikat vergeben. Allerdings ist China das erste Land in der westlichen Pazifikregion, dem dieser Durchbruch seit 30 Jahren gelingt. Laut WHO hat die Volksrepublik bereits vor Jahrzehnten damit begonnen, Medizin zur Prävention der Krankheit in Risikogebieten auszugeben. Auch wurden die Brutgebiete von Moskitos systematisch reduziert und die Menschen vor allem im Süden Chinas ausgiebig darüber informiert, keine Gefäße mit stehendem Wasser aufzustellen. Außerdem seien Insektenschutzmittel sowie Schutznetze weiträumig verfügbar gemacht worden. Noch in den 1940er-Jahren habe China rund 30 Millionen Malaria-Erkrankungen pro Jahr gemeldet. In den vergangenen vier Jahren gab es keine einzige registrierte Neuinfektion mehr in dem Land. 

    Nach Schätzungen der WHO erkranken jährlich knapp 230 Millionen Menschen an der durch Mücken übertragenen Krankheit. Etwa 400.000 Menschen sterben pro Jahr an ihr – mehr als 265.000 davon sind Kinder. Die WHO hatte im vergangenen April angekündigt, die tödliche Infektionskrankheit bis 2025 weltweit in 25 Ländern ausrotten zu wollen. flee

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    Weniger Kredite für Kohlekraft im Ausland

    Chinas größte Bank hat Pläne zur Finanzierung eines drei Milliarden US-Dollar teuren Kohlekraftwerks in Simbabwe aufgegeben. Das habe die Industrial and Commercial Bank of China einer Gruppe von Umwelt-Organisationen mitgeteilt, berichtet Bloomberg. Der Energieanalyst Lauri Myllyvirta sagte demnach, diese Entscheidung sei “signifikant” und seines Wissens nach “das erste Mal, dass eine chinesische Bank pro-aktiv aus einem Kohlekraftwerksprojekt ausgestiegen ist”. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte haben allein die staatlichen chinesischen Entwicklungsbanken über 50 Milliarden US-Dollar in Kohleprojekte im Ausland investiert.

    Doch langsam scheint sich das Blatt zu wenden. Für die “Belt and Road”-Initiative (BRI) wurde eine Klimaampel zur Einhaltung von Nachhaltigkeitsaspekten vorgeschlagen (China.Table berichtete). Und seit 2017 wurden 4,5-mal mehr Kohleprojekte im Ausland mit chinesischer Unterstützung aufgegeben oder auf Eis gelegt als sie verwirklicht wurden, wie eine Analyse des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) zeigt. Nichtsdestotrotz sei noch immer eine große Anzahl von Kohlekraftwerken “in der Pipeline”, so CREA. nib

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    Syngenta strebt in Shanghai an die Börse

    China National Chemical (Chemchina) will seine Tochtergesellschaft Syngenta schneller in Shanghai an die Börse bringen als bisher geplant. Das Agrarchemie-Unternehmen will in diesen Tagen seinen Börsenprospekt veröffentlichen und den Handel noch vor Jahresende aufnehmen. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) hatte Syngenta-Chef Erik Fyrwald bereits Anfang des Monats die Hoffnung geäußert, die Erstnotiz noch im laufenden Jahr über die Bühne bringen zu können. Jetzt hat das Unternehmen offenbar bereits alle nötigen Unterlagen bei der Technologiebörse Star Market eingereicht.

    Syngenta, ein Schweizer Unternehmen, wurde 2015 von Chemchina für die hohe Summe von 43 Milliarden Dollar übernommen. Das Unternehmen stellt gentechnisch verändertes Saatgut, Pflanzenschutzmittel und andere Produkte für die Landwirtschaft her. Für China hat es derzeit Priorität, die Nahrungsmittelproduktion zu modernisieren, um seine große Bevölkerung sicher ernähren zu können.

    Bis 2017 war Syngenta bereits in Zürich, London und New York an der Börse notiert. Nach Übernahme von 98 Prozent der Anteile durch Chemchina ist das Unternehmen aus dem Handel gegangen. Mit der Rückkehr in den Handel – diesmal an einer chinesischen Technik-Börse – könnte Chemchina einen Teil des hohen Kaufpreises wieder hereinholen. Die Bewertung soll bei 65 Milliarden Yuan liegen, das sind rund 8,5 Milliarden Euro. fin

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    Preis für Pakete aus China steigt

    Durch neue Regeln beim grenzüberschreitenden Onlinehandel in der EU und mit Drittstaaten werden Paketsendungen in die EU womöglich teurer. Zum 1. Juli sind Warensendungen von außerhalb der EU nicht mehr Einfuhrumsatzsteuer befreit. Bisher waren diese befreit, solange der Wert der Waren 22 Euro nicht übertroffen hat. Künftig gilt für jedes in der EU ankommende Paket der jeweilige Mehrwertsteuersatz des Zielortes der EU. Auch sinkt ab dem 1. Juli für die EU die Schwelle von insgesamt 10.000 Euro, ab der Einfuhrumsatzsteuer anfallen.

    Damit sollen Händler innerhalb der EU, gegenüber denen außerhalb nicht mehr benachteiligt sein. Bisher konnten vor allem die E-Commerce-Großhändler wie Amazon, Alibaba ihre Waren direkt über ihre Plattformen an Privatkunden in Europa liefern und so die Einfuhrumsatzsteuer umgehen. In der Praxis muss ab dem 1.Juli  jedes Paket aus einem Nicht-EU-Land digital angemeldet werden und geht durch den Zoll. Die Servicepauschale wird den Kunden von den Transportunternehmen in Rechnung gestellt und beträgt bei der Deutschen Post/ DHL sechs Euro.

    Die Freigrenze von 45,- Euro für private Geschenke bleibt unverändert bestehen.

    Um die Abgabe der Steuern zu erleichtern, können sich Händler aus Drittstaaten wie China, USA und Großbritannien über das neue EU- Mehrwertsteuersystem IOSS (Import-One-Stop-Shop) registrieren. Solange der Wert der Waren, die außerhalb der EU eingekauft werden, 150 Euro nicht überschreitet, fallen beim Zoll keine zusätzlichen Gebühren an. niw

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    Presseschau

    Hong Kong’s courts should reflect China’s will, says official GUARDIAN
    JPMorgan Fund Adds China Internet Stocks Hit by State Crackdown BLOOMBERG (PAY)
    China completes half-year vaccination goal early, will cover as many people as possible in H2 GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
    China’s tech hub Shenzhen looks to restrict surveillance cameras in public spaces SCMP
    China’s Didi touts tech spending ahead of Wall St debut INDEPENDENT
    China’s Economy Flashes Hints of Weakness WSJ (PAY)
    Science journal editor says he quit over China boycott article GUARDIAN
    Apple Daily Publisher Next Digital Will Shut Down On July 1 Following Clampdown By Hong Kong Government FORBES
    China Falls Behind U.S. in Global Image, Survey Data Shows WSJ (PAY)
    WHO declares China malaria-free after 70 years of efforts DW
    “Zensur, Schikane, Verfolgungen”: Hongkong wird immer unattraktiver für Unternehmen HANDELSBLATT
    Ein Jahr Sicherheitsgesetz: Hongkongs radikaler Umbau TAZ
    Chinas Industrie-Wachstum verlangsamt sich leicht im Juli HANDELSBLATT

    Portrait

    Cai Xia – Ideologin und Überläuferin

    Es ist wahrlich kein Glückwunsch-Schreiben, das Cai Xia zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas, formuliert hat. Im Gegenteil: Die pensionierte Dozentin der Zentralen Parteihochschule in Peking hat kürzlich die Seiten gewechselt, räumlich wie ideologisch, und teilt in einem 28-seitigen Papier für das Hoover-Institut, einem konservativen US-Thinktank an der Stanford-Universität, gegen die Führung der Volksrepublik China aus.

    Ausdrücklich warnt Cai Xia die Amerikaner, und damit auch deren Verbündete in Europa, vor einem “Wunschdenken”, dass das heutige China verpflichtend in die Weltgemeinschaft zu integrieren sei. Vier Jahrzehnte diplomatischer Brückenbau hätten “lediglich eine chinesische Führung verankert, die den USA von Natur aus feindlich gesinnt sei. Unter Präsident Xi Jinping findet China eine Einbindung nicht mehr sinnvoll”, schreibt Cai Xia in dem Papier mit dem Titel “Insider’s perspective”, aus dem das Wall Street Journal zuerst zitierte.

    “Wunschdenken über eine Einbindung (Chinas) müssen durch nüchterne Abwehrmaßnahmen ersetzt werden, um die Vereinigten Staaten vor der Aggression der KPCh zu schützen”, schreibt die Juristin, die größeren Druck auf China empfiehlt, “da die Kommunistische Partei Chinas viel zerbrechlicher ist, als die US-Amerikaner annehmen.” Die KP Chinas würde die Macht der US-Amerikaner durchaus fürchten. Die Partei gebe nach Außen ein mächtiges Erscheinungsbild ab, sei aber von Widersprüchen und Selbstzweifeln zerrissen. “Die KPCh hat den Ehrgeiz eines hungrigen Drachens, aber in ihr steckt ein Papiertiger”, schreibt Cai Xia.

    Cai Xias falsche Hoffnung in Xi Jinping als Reformer

    Ihre Aussagen bekommen auch deshalb besondere Bedeutung, weil sie selbst 15 Jahre lang an der Parteischule die besten Kader des Landes ausbildete, ehe sie 2012 pensioniert wurde. Cai Xia hatte 1988 an der Einrichtung ihren Jura-Abschluss gemacht. Die Parteischule wird auch als das Gehirn der KP bezeichnet. Dass sie nun als Dissidentin in Erscheinung tritt, ist für Cai Xia das vorläufige Ende einer Entwicklung, die sie während der bisherigen Amtszeit von Xi Jinping genommen hat. Als Mitglied der 2. Roten Generation jener Söhne und Töchter der Revolutionäre des Landes galt sie ihr ganzes Berufsleben lang als engagierte und überzeugte Ideologin im Sinne der Partei.

    Doch die zunehmend totalitären Züge im Land und die wachsende Aggression Chinas als Wirtschaftsmacht haben Cai den Glauben verlieren lassen, dass sich ihr Heimatland weiterhin auf dem richtigen Weg befindet. Anfang 2020 reiste sie in die USA und kehrte nicht mehr zurück. Einerseits weil Corona die Rückkehr nach China erschwerte, anderseits, weil sie damit begann, ihre Kritik an der Partei und Xi öffentlich zu formulieren. Im Juni 2020 bezeichnete sie Xi Jinping als einen Mafiaboss. Wenig später wurde Cai Xia aus der Partei ausgeschlossen.

    Sie selbst hatte große Hoffnungen in Xi gesetzt. In einem Beitrag im Politikmagazin Foreign Affairs schrieb sie vor wenigen Monaten: “Als Xi Jinping 2012 an die Macht kam, war ich voller Hoffnung für China.” Sie habe genug geschichtliches Verständnis, “um zu dem Schluss zu kommen, dass es für China an der Zeit war, sein politisches System zu öffnen.” Das Land habe nach einem Jahrzehnt der Stagnation Reformen dringend benötigt. Und sie hielt Xi für den richtigen Mann. Doch sie irrte, wie sie heute sagt. grz

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    Standpunkt

    Pater patriae

    Von Stefan Baron

    Laut dem jüngsten Edelman Trust Barometer bekunden 82 Prozent der Chinesen Vertrauen in ihre Regierung: KP. Kein anderes der insgesamt 27 untersuchten Länder kommt diesem Wert auch nur nahe. Überall auf dem Globus ist der Sozialismus gescheitert, nur nicht in China. Die Erklärungen dafür laufen meist darauf hinaus, dass Peking unfair spielt. Und in der Tat: China war bei seiner Aufholjagd gegenüber dem Westen in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich.

    Gleichwohl greift es viel zu kurz, seinen fulminanten Aufstieg vor allem mit dem Diebstahl geistigen Eigentums, erzwungenem Technologietransfer und der Verweigerung von gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle, sogenannter Reziprozität, zu erklären. In seiner “ideologischen Blindheit” und der Überzeugung, dass Demokratien anderen Systemen immer und überall überlegen seien, habe der Westen China “unterschätzt”, so Politikwissenschaftler und Ex-Diplomat Kishore Mahbubani.

    Die Ursache dafür ist vor allem in mangelndem Verständnis der chinesischen Geschichte, Kultur und Denkweise zu suchen. Während wir im Westen die Dinge gerne binär sehen, in Entweder-Oder-Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder böse, schwarz oder weiß und in Dichotomien wie Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt, Individuum und Gemeinschaft, kennen Chinesen nur Grautöne. Für sie bilden Gegensätze eine Einheit. In ihrem Denken stellen die widerstreitenden Kräfte Yin und Yang das Bewegungsgesetz des gesamten Universums dar. Das chinesische Denken kennt weder nur eine Wahrheit noch für immer gültige Wahrheiten, sondern nur relative und situative. Chinas Regierungs- und Wirtschaftssystem lässt sich deshalb nicht einfach als kommunistisch, sozialistisch, diktatorisch oder totalitär etikettieren. Es ist hybrid wie die gesamte chinesische Kultur.

    Anders als die Kommunistischen Parteien in anderen Ländern hat die KP Chinas den Sozialismus konsequent der praktischen, konkreten, situativen, nicht-linearen und ganzheitlichen Denktradition des Landes angepasst und sich als höchst flexibel, experimentierfreudig und lernfähig erwiesen. Der chinesische Regierungsstil, so die China-Forscher Sebastian Heilmann und Elizabeth Perry, verstehe Politik als einen “Prozess der ständigen Veränderung und Konfliktbewältigung, des Ausprobierens und der Ad-hoc-Anpassung”. Chinas Regierungspartei betrachtet den Marxismus nicht als unabänderliche Entwicklungsdoktrin, sondern vor allem als dialektische Untersuchungsmethode, die als Kriterium für die Wahrheit allein die Praxis vor Ort zulässt.

    Schon lange lässt sich die KP auch nicht mehr als Arbeiter- und Bauernpartei bezeichnen. Der sogenannte “Klassenhintergrund” spielt inzwischen so gut wie keine Rolle mehr. Die über 95 Millionen Mitglieder kommen aus allen Schichten des Volkes. Darunter sind auch zahlreiche Intellektuelle und Unternehmer sowie eine Reihe von Milliardären. Aufgenommen werden nur die in ihrem jeweiligen Umfeld Erfolgreichsten. Ihr Durchschnittsalter liegt deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Ein Drittel der jährlich etwa zwei Millionen neuen Mitglieder hat einen akademischen Abschluss. Rund drei Viertel der in den vergangenen Jahren in die Partei aufgenommenen Studenten kamen von den Top-Universitäten des Landes. Solche Mitglieder sind keine Herde von Schafen, sie wollen Karriere machen – aber auch mitreden. Und nirgendwo können sie das mehr als in der KP.

    Anders als meist angenommen wird China so immer weniger von dogmatischen Ideologen geführt, wie wir sie aus dem ehemaligen Ostblock kannten, sondern immer mehr von gut ausgebildeten, in verschiedensten Positionen erprobten Technokraten. Diese agieren pragmatisch, erfolgs- und problemlösungsorientiert nach der berühmten Devise von Deng Xiaoping: “Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse”. Ihr oberstes Ziel ist nicht der Kommunismus. Die Einkommens- und Vermögenunterschiede im Lande sind enorm, China kennt bis heute nicht einmal eine Erbschaftssteuer. “Das Einzige was uns interessiert, sind gute Bedingungen für unsere Entwicklung”, so beschrieb Deng einst den strategischen Fokus der KP.

    Daran hat sich nichts geändert. Seit ihrer Gründung habe die Partei “ihr ursprüngliches Verlangen nie geändert”, so Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping: “die historische Mission der großen Erneuerung der chinesischen Nation zu erfüllen”. Zhonguo fuxing, die “Renaissance Chinas”, gewissermaßen ein “Reich der Mitte 2.0”, ein China, das die Demütigung durch fremde Mächte in der zweiten Hälfte des 19. Und ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ein für allemal hinter sich gelassen und wirtschaftlich wie politisch und kulturell weltweit wieder die Geltung erlangt hat, die es über Tausende von Jahren zuvor genossen hatte – das ist der “chinesische Traum”. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung teilt diesen Traum und traut der KP zu, ihn Realität werden zu lassen.

    Viele im Westen meinen, dies könne nur das Ergebnis von Gehirnwäsche und/oder Angst davor sein, sich frei zu äußern. Eine im Juli 2020 veröffentlichte repräsentative Langzeitstudie unter der Leitung des Politikprofessors Tony Saich, dem Direktor des Ash Centers an der Kennedy School der Universität Harvard, zeichnet jedoch ein anderes Bild. Saich ließ in acht Wellen von 2003 bis 2016 die Zufriedenheit der Chinesen mit ihrer Regierung untersuchen. Dabei wurden über 31.000 Stadt- und Landbewohner nicht online oder am Telefon, sondern von Interviewern der Kennedy School persönlich von Angesicht zu Angesicht befragt. Sprich: Die Möglichkeiten des Staates, die Angaben der Befragten zu überwachen und so auch in ihrem Sinne zu beeinflussen, waren gegenüber den gängigen Befragungsmethoden zumindest stark eingeschränkt. Ergebnis der Studie: Die Chinesen bescheinigten den staatlichen Institutionen ihres Landes auf allen Ebenen, vor allem aber der Zentralregierung, zunehmende Kompetenz und Effizienz. Zwischen 2003 und 2016 stieg die Zufriedenheit mit der Regierung in Peking von über 86 auf 93 Prozent an. Die Harvard-Wissenschaftler bescheinigten der kommunistischen Führung folgerichtig “anhaltende Resilienz durch verdiente Legitimation”.  

    Die große Mehrheit der Chinesen honoriert die Fortschritte, die ihnen das gegenwärtige Regierungssystem gebracht hat. Und das nicht nur wegen der Befreiung aus bitterer Armut, eines allgemeinen Zuwachses an materiellem Wohlstand, sondern auch wegen einer deutlich erhöhten Lebenserwartung, besseren Gesundheitsversorgung und Schulbildung sowie nicht zuletzt auch mehr persönlicher Freiheiten jenseits der Politik als je zuvor in der chinesischen Geschichte; etwa die Freiheit, den Wohnsitz und Arbeitsplatz wählen, den Ehepartner aussuchen, ins Ausland reisen, dort studieren zu können und anderes mehr. “Die Mehrheit der Chinesen scheint mit einer Politik, die Ordnung und Stabilität über Freiheit und politische Partizipation stellt, einverstanden zu sein”, so Wang Gungwu, der wohl bedeutendste lebende chinesische Historiker aus Singapur. “Sie glauben, dass ihr Land dies im gegenwärtigen Stadium braucht und sind darüber verärgert, immer wieder als politisch unfrei und zurückgeblieben kritisiert zu werden.” Freiheit und Menschenrechte als solche gibt es für die Chinesen ohnedies nicht, nur verschieden Freiheiten und Rechte. Und die werden nicht von allen Menschen zu jeder Zeit und in jeder Lage gleich bewertet. Während es der eine etwa mehr schätzt, die Regierung wählen und offen kritisieren zu dürfen, stuft der andere eine Leben ohne materielle Sorgen höher ein.

    Chinas politisches System basiert seit jeher auf dem paternalistischen Familienmodell der konfuzianischen Lehre (China.Table berichtete). Das Wort “Staat” besteht im Chinesischen aus den Bestandteilen “Land” und “Familie”. Er ist also so etwas wie die Familie aller Familien und der Staatschef der Familienvater, Pater patriae. Solange dieser seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Volk gebührend nachkommt, gebührt ihm dessen Loyalität. Die regierende KP hat diese Pflicht in den Augen der Mehrheit der Chinesen bisher offenkundig ausreichend beherzigt und konnte deshalb bis heute an der Macht bleiben. Die Alleinherrschaft der Partei scheint auf absehbare Zeit alternativlos. Das gilt jedoch keineswegs für immer. Das relative und situative chinesische Denken spricht dagegen. Der Westen wäre allerdings gut beraten, der Entwicklung nicht vorgreifen zu wollen. Er würde diese damit nur verzögern.

    Stefan Baron ist Ko-Autor des Buches “Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht”. Vor kurzem erschien sein neues Buch “Ami go home – eine Neuvermessung der Welt”, das die Rolle Europas in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg 2.0 zwischen den USA und China zum Gegenstand hat.

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    Dessert

    Rotes Fahnen-Meer statt Demos in Hongkong: Wo vor einem Jahr noch Bürgerproteste stattfanden, schwenkt in diesem Jahr ein Peking-Patriot die Flagge der Volksrepublik. Am 1. Juli wird in der Sonderverwaltungszone auch der Übergabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China gedacht.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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